Aktuell in der ZKM

Digitale Tools zur Unterstützung der Verfahrenswahl (Gläßer/Wenkel, ZKM 2023, 157)

Dieser Beitrag stellt ausgewählte digitale Tools vor, die kostenfrei öffentlich verfügbar sind, um Konfliktparteien sowie deren Berater bei der passgenauen Verfahrenswahl zu unterstützen und über die Vielfalt denkbarer Konfliktbearbeitungsverfahren zu informieren. Die Leser sollen angeregt werden, mit den verschiedenen Tools zu experimentieren.


A. Die Wahl des bestgeeigneten Konfliktbearbeitungsverfahrens – eine Herausforderung

B. Mehrwert von Verfahrenswahl-Tools

C. Frühe Ansätze

I. Fitting the Forum to the Fuss

II. Dispute Resolution Recommendation Matrix (DRRM)

D. Aktuelle Tools im Überblick

I. DiReCT

1. Überblick

2. Aufbau und Funktionalität

III. KOMPASS

1. Überblick

2. Aufbau und Funktionalität

IV. Konfliktlotse „Recht ohne Streit“

1. Überblick

2. Aufbau und Funktionalität

V. IHK-Konfliktnavigator

1. Überblick

2. Aufbau und Funktionalität

E. Die Tools im Vergleich

F. Fazit und Ausblick


A. Die Wahl des bestgeeigneten Konfliktbearbeitungsverfahrens – eine Herausforderung

Im Jahr 2005 hatte die erste der von der Europa-Universität Viadrina gemeinsam mit PricewaterhouseCoopers durchgeführten Konfliktmanagement-Studien klar gezeigt, dass deutsche Unternehmen nach gescheiterten Verhandlungen mit anderen Unternehmen in aller Regel den Weg zum Gericht einschlagen, statt die – von ihnen selbst als vorteilhafter eingeschätzten – außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren zu nutzen.  Die Frage, warum das außergerichtliche Verfahrensspektrum nicht besser ausgeschöpft wird, stellt sich nicht nur im b2b-Bereich, sondern auch bei innerbetrieblichen und/oder privaten Konfliktlagen.

Für alle Kategorien von Konflikten steht ein großes Angebot an außergerichtlichen Verfahren zur Verfügung, die passgenau ausgewählt oder sogar optimiert maßgeschneidert werden könnten. Doch nicht nur ein Konflikt, auch die Wahl des passenden Verfahrens für seine Bearbeitung kann komplex sein.

Insbesondere für Laien ist es oft herausfordernd, überhaupt einen Überblick über die jeweiligen Charakteristika und Unterschiede der außergerichtlichen Verfahrensarten zu erhalten. Noch schwieriger ist es zu verstehen, worin genau die spezifischen Vorteile und Risiken einzelner Verfahren mit Blick auf einen konkreten Konfliktfall liegen.

Dies hatte auch der Gesetzgeber erkannt und der Rechtsanwaltschaft in § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO den Auftrag zur differenzierten Verfahrensberatung vor Klageerhebung erteilt. Leider wurde die Norm nur als Soll-Vorschrift ausgestaltet, so dass Rechtsanwälte ihren Mandanten in der Praxis nur selten eine profunde Aufklärung über verfügbare Verfahrensvarianten zukommen lassen. 

Wie können die bestehenden Informationslücken zu Streitbeilegungsverfahren geschlossen und eine differenzierte, passgenaue Verfahrenswahl unterstützt werden?

Open access verfügbare, kostenlose digitale Tools bieten hier neue Möglichkeiten. Dieser Beitrag stellt den grundsätzlichen Mehrwert (B.), die historischen Vorläufer (C.) und die unterschiedlichen Ansätze und Funktionalitäten von aktuellen Verfahrenswahl-Tools im Überblick (D.) vor. Am Ende stehen einige vergleichende Betrachtungen (E.) sowie Fazit und Ausblick (F.).

B. Mehrwert von Verfahrenswahl-Tools

Speziell dafür entwickelte digitale Tools sollen Konfliktparteien und deren Berater bei der systematischen Verfahrenswahl assistieren. Grundsätzlich sind diese Tools so angelegt, dass die Nutzer online durch eine Kaskade von Fragen geführt werden, um so zu dem für ihren konkreten Fall am besten geeigneten Konfliktbearbeitungsansatz zu gelangen. Dabei haben die Tools nicht den Anspruch, die einzig richtige Verfahrensempfehlung zu geben. Vielmehr sollen die Tools

  • über die Vielfalt der existierenden Streitbeilegungsverfahren mit ihren jeweiligen Charakteristika und ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit aufklären und
  • im konkreten Fall eine kriteriengeleitete Entscheidung über den (als nächstes) einzuschlagenden Verfahrenspfad unterstützen.


Rechtsanwälte können Verfahrenswahl-Tools vor, in oder nach Beratungsgesprächen mit ihren Mandanten nutzen, um ihre eigenen Einschätzungen vorzubereiten, zu fundieren oder zu überprüfen.

Juristische Laien werden durch die Tools ermächtigt, sich ein eigenes Bild vom Spektrum der Verfahrensoptionen zu machen – entweder um selbstbestimmt über den nächsten Verfahrensschritt zu entscheiden oder um eine differenzierte Verfahrensberatung von ihrem Rechtsbeistand einzufordern.

Konfliktparteien können Tools nicht nur jeweils für sich, sondern auch gemeinsam nutzen. Insbesondere können Tools ein systematisches Gespräch zwischen den Konfliktparteien über die Verfahrenswahl fördern, die im Feld ADR ja letztlich konsensual getroffen werden muss.

C. Frühe Ansätze

Die ersten Versuche, analytische Instrumente zur Optimierung der Verfahrenswahl zu entwickeln, reichen fast 30 Jahre zurück.

I. Fitting the Forum to the Fuss

Bereits 1994 veröffentlichten Frank Sander und Stephen Goldberg im Negotiation Journal ein Berechnungs-System, mit dem systematisch das bestgeeignete Streitbeilegungsverfahren für einen konkreten Konflikt ermittelt werden sollte.  Zusätzlich zu den klassischen Verfahrenstypen Verhandlung, Mediation, Adjudikation und Schiedsgericht wurden weitere Verfahren – Mini Trial, Summary Jury Trial und Early Neutral Evaluation – in den Blick genommen. Das Berechnungs-System besteht aus zwei Tabellen: In der ersten Tabelle werden die Interessen bzw. Ziele der Parteien priorisiert, mit den genannten Verfahren kombiniert und auf einer Skala von null bis drei hinsichtlich ihrer Kompatibilität eingestuft.  In der zweiten Tabelle werden mögliche Hindernisse, die bei der Lösung von Konflikten auftreten können, auf dieselbe Art und Weise eingestuft.  Abschließend werden die Werte der beiden Tabellen zusammengeführt; das Ergebnis bietet eine quantifizierte Orientierung, welche Verfahren wie geeignet für den konkreten Fall sein könnten.

2006 wurde dieser Ansatz von Frank Sander und Lukasz Rozdeiczer erweitert. Sie entwickelten zusätzliche Tabellen, um weitere Aspekte in die Verfahrensauswahl einzubeziehen und so die Interessen der Parteien den aufgelisteten ADR-Verfahren noch differenzierter zuordnen zu können.

Beide Berechnungs-Systeme können als analoge Vorläufer der im Folgenden vorgestellten digitalen Tools betrachtet werden.

II. Dispute Resolution Recommendation Matrix (DRRM)

Im Jahre 2005 entwickelte das Unternehmen Bombardier Transportation ein digitales Tool für die unternehmensinterne Verwendung, welches insbesondere auf den Ansätzen von Sander und Goldberg sowie Sander und Rozdeiczer aufbaute.  Die „Dispute Resolution Recommendation Matrix“ (DRRM) sollte computergestützt das am besten geeignete Verfahren für konkrete b2b-Konflikte ermitteln.  Mit der DRRM wurden die folgenden fünf von Bombardier zu dieser Zeit für im b2b-Bereich am relevantesten erachteten Verfahren in den Blick genommen: Mediation, Adjudikation, Schiedsgutachten, Schiedsgerichtsverfahren und staatliches Gerichtsverfahren.  Die Anwender des Tools beantworteten interaktiv eine Reihe von Fragen zur Klärung ihrer Verfahrensinteressen; das Tool berechnete dann, welches der genannten Verfahren am besten für den konkreten Konflikt geeignet ist. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 28.11.2023 09:58
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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