Aktuell in der ZKM

Der Streitbeilegungsmechanismus nach dem Bürgergeld-Gesetz (Janda, ZKM 2024, 82)

Anfang 2023 ist das neue Bürgergeld-Gesetz in Kraft getreten. Eine der zentralen Neuregelungen der Reform ist der sog. Kooperationsplan, der die Eingliederungsvereinbarung abgelöst hat. Kommt es bei der Erarbeitung des Kooperationsplans zwischen Jobcenter und Antragsteller zu Meinungsverschiedenheiten, ist ein Schlichtungsverfahren vorgesehen. Der Beitrag analysiert den neuartigen auf Kooperation angelegten Streitbeilegungsmechanismus.


I. Einführung

II. Zielsetzung und wesentliche Inhalte des Bürgergeld-Gesetzes

III. Potentialanalyse und Kooperationsplan, § 15 SGB II

IV. Streitbeilegung bei Meinungsverschiedenheiten § 15a SGB II

1. Einleitung der Schlichtung

2. Verfahrensgestaltung

3. Schlichtungsperson

4. Ende der Schlichtung

V. Bewertung

1. Schlichtung oder Mediation?

2. Interne oder externe Schlichtung?

3. Schlichtung als Massenverfahren?


I. Einführung

Seit dem 1.1.2023 ist das Bürgergeld-Gesetz in Kraft. Mit dieser „größte[n] Sozialstaatsreform seit 20 Jahren“ sollte die umgangssprachlich als „Hartz IV“ bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende abgelöst und durch ein kooperativeres Verfahren der Arbeitsmarktintegration ersetzt werden. So tritt der neue Kooperationsplan an die Stelle der früheren Eingliederungsvereinbarung. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten bei der Erarbeitung des Plans kommt ein Schlichtungsverfahren zur Anwendung. Seit dem 1.7.2023 in § 15a SGB II verankert, wirft dieser Mechanismus verschiedene Fragen auf, die nach einer kurzen Einführung in die Grundlagen des Bürgergeldes (II.) und die Konzeption des Kooperationsplans (III.) erörtert werden (VI.).

II. Zielsetzung und wesentliche Inhalte des Bürgergeld-Gesetzes

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht, § 1 Abs. 1 SGB II. Dazu erhalten sie Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie umfassende Leistungen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Grundsicherung war seit ihrer Einführung im Jahr 2005 umstritten. In der Kritik standen nicht nur die gering bemessenen Leistungssätze und die strikten Hinzuverdienstgrenzen, sondern auch das Konzept des „Förderns und Forderns“. Die dahinterstehende Kombination aus Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und Sanktionen für unzureichende Mitwirkung wurde verbreitet als bevormundend, schematisch und wenig auf die individuelle Situation der Leistungsberechtigten ausgerichtet wahrgenommen.

Mit dem Bürgergeld sollte ein Paradigmenwechsel bewirkt werden. Ein Anlass war das Urteil des BVerfG, in dem die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten festgestellt wurde. Im Vordergrund der Reform stand weniger eine grundlegende Neuordnung der Leistungen als eine geänderte Perspektive auf Arbeitsuchende: Statt schnellstmöglich in Beschäftigung vermittelt zu werden, sollte ihre Qualifizierung und Weiterbildung gefördert werden. Der Eingliederungsprozess soll durch „eine vertrauensvolle, transparente Zusammenarbeit zwischen Leistungsberechtigten und Jobcentern“ gefördert, „gegenseitiger Respekt und Vertrauen“ gestärkt werden. Die Struktur der Leistungen blieb ebenso unangetastet wie deren Bemessung. Jedoch wurden die Möglichkeiten des Hinzuverdienstes erweitert, Regeln zur Angemessenheit der Wohnung abgemildert und mit dem Kooperationsplan eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe“ ermöglicht.

III. Potentialanalyse und Kooperationsplan, § 15 SGB II

Der Vermittlungsprozess beginnt mit der Potentialanalyse. Dazu soll die Arbeitsagentur gem. § 15 Abs. 1 SGB II gemeinsam mit dem Leistungsberechtigten seine persönlichen Merkmale, beruflichen Fähigkeiten und seine Eignung für die Eingliederung in Arbeit oder Ausbildung feststellen. Dabei sollen nicht nur Eingliederungshindernisse erhoben werden, sondern – dies ist neu seit Inkrafttreten des Bürgergeld-Gesetzes – auch die individuellen Stärken des Arbeitsuchenden, zu denen auch formale und non-formale Qualifikationen sowie Soft Skills zählen.

Die Potentialanalyse bildet die Basis für den Kooperationsplan, § 15 Abs. 2 SGB II. Auch dieser wird gemeinsam mit der leistungsberechtigten Person erstellt, um ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu verbessern. Festzuhalten sind neben dem Eingliederungsziel – Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung – die erforderliche Unterstützung und Förderung durch das Jobcenter. Dies umfasst etwa die geeigneten Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (§§ 14 ff. SGB II), die Eigenbemühungen des Leistungsberechtigten, ggf. die Teilnahme an einem Integrations- oder Sprachkurs (§§ 43, 45a AufenthG) oder das Bestehen von Bedarfen für berufliche oder medizinische Rehabilitation. Auch Leistungen für die Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft können in den Blick genommen werden, um Eingliederungshemmnisse für den Arbeitsuchenden zu beseitigen oder abzumildern. Der Plan ist regelmäßig, spätestens nach Ablauf von sechs Monaten, zu aktualisieren und fortzuschreiben.

Durch die Aushandlung „auf Augenhöhe“ soll ein echter kooperativer Prozess ermöglicht werden – anders als früher im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung sollen also nicht mehr vorgefertigte Textbausteine und schematische Maßnahmen „vereinbart“ werden. Gravierende inhaltliche Unterschiede zur Eingliederungsvereinbarung bestehen jedoch nicht.

Der Kooperationsplan soll dezidiert kein öffentlich-rechtlicher Vertrag i.S.v. § 53 SGB X sein. Zur Begründung weist der Gesetzgeber nicht nur auf die Schwierigkeiten bei der rechtssicheren Aushandlung eines Vertrags hin, sondern auch auf die faktische Überforderung von Träger und Leistungsberechtigtem aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Asymmetrie.

Zwar ist der Kooperationsplan für beide Seiten unverbindlich. Verweigert ein Arbeitsuchender die Ausarbeitung, Fortschreibung oder Befolgung des Kooperationsplans, bleibt dies jedoch nicht folgenlos. Vielmehr überprüft die Arbeitsagentur, ob die leistungsberechtigte Person die Absprachen einhält. Gegebenenfalls wird sie, ebenso wie bei der Verweigerung der Planung oder ihrer Fortschreibung, mit Rechtsfolgenbelehrung zur Mitwirkung aufgefordert. Die Nichterfüllung dieser Mitwirkungshandlung stellt eine Pflichtverletzung dar, die gem. §§ 31 Abs. 1, 31a SGB II zu einer Minderung des Bürgergeldes führt.

IV. Streitbeilegung bei Meinungsverschiedenheiten § 15a SGB II

Nach der hergebrachten Konzeption erließ das Jobcenter einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt, wenn die angestrebte Eingliederungsvereinbarung nicht zustande kam, § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB II a.F. Konflikte über die Befolgung der darin vorgesehenen Mitwirkungshandlungen mündeten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II a.F. unmittelbar in die Sanktion. Geprüft wurde lediglich, ob die leistungsberechtige Person einen wichtigen Grund für ihr Verhalten vorbringen konnte. Mit dem Bürgergeld-Gesetz ist im Fall von Meinungsverschiedenheiten zunächst ein Schlichtungsverfahren vorgesehen, wenn diese der Erstellung oder Fortschreibung des Kooperationsplans entgegenstehen.

1. Einleitung der Schlichtung

Der Begriff der Meinungsverschiedenheiten ist weit zu verstehen. Die Gesetzesbegründung nennt nicht nur unterschiedliche Ansichten zu gebotenen Eingliederungsmaßnahmen, sondern auch Kommunikationsprobleme, die den vertrauensvollen und kooperativen Austausch unter den Beteiligten erschweren. Aus den Materialien ergibt sich indes nicht, ob eine Meinungsverschiedenheit auch ohne Meinungsaustausch vorliegen kann, also wenn sich eine Seite von vornherein den Vorschlägen der anderen Seite verweigert. In diesem Fall dürfte aber auch eine Schlichtung nicht von Erfolg gekrönt sein, beruht diese – dazu sogleich – doch auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit.

Die Schlichtung setzt weiterhin voraus, dass der Kooperationsplan wegen des Dissenses nicht erstellt oder fortgeschrieben werden kann. Sie kommt daher weder bei Meinungsverschiedenheiten über Geldleistungen zum Tragen, noch bei Streitigkeiten über die Umsetzung der geplanten Leistungen und Bemühungen.

Das Verfahren soll auf Verlangen einer oder beider Seiten eingeleitet werden; das Jobcenter hat insofern folglich kein Ermessen. Etwas anderes gilt lediglich in atypischen Fällen, so etwa wenn einer der Beteiligten erkennbar nicht an der Schlichtung interessiert ist oder die Schlichtung missbräuchlich in die Wege leiten will. Hierfür bedarf es objektiver Anhaltspunkte, beispielsweise wiederholter Schlichtungsverlangen mit redundantem Inhalt. Allein aus dem Umstand, dass Leistungsberechtigte auf ihrer Auffassung beharren und nachdrücklich bestimmte Leistungen einfordern, darf jedoch nicht auf „querulatorisches Verhalten“ geschlossen werden.

Verlangt eine Seite die Schlichtung, hat die andere Seite zwar kein Vetorecht; die Teilnahme ist jedoch freiwillig. Mit der kooperativen Neuausrichtung des Leistungssystems durch das Bürgergeld-Gesetz wäre es aber kaum vereinbar, würde man dem Jobcenter die Teilnahme tatsächlich freistellen. Den Leistungsberechtigten würden in diesem Fall die üblichen Rechtsmittel offenstehen, denn die Ablehnung der Schlichtung wäre als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Für die Leistungsberechtigten besteht ein starker Anreiz zur Teilnahme am Schlichtungsverfahren, denn gem. § 15a Abs. 3 SGB II ist während der Schlichtung die Sanktionierung von Pflichtverletzungen ausgesetzt.

2. Verfahrensgestaltung

Ziel des Schlichtungsverfahrens ist die Entwicklung eines gemeinsamen Lösungsvorschlags. Genauere Regelungen zum Ablauf sieht das Gesetz bewusst nicht vor, sondern die „Voraussetzungen für einen Schlichtungsmechanismus“ sind nach § 15a Abs. 1 Satz 2 SGB II von der Arbeitsagentur im Einvernehmen mit dem kommunalen Träger zu schaffen. Einzelheiten sind von der Trägerversammlung festzulegen, sofern es sich um eine gemeinsame Einrichtung handelt (§ 44c SGB II); bei den zugelassenen kommunalen Trägern entscheidet das Jobcenter selbst. Mit dieser dezentralen Lösung wollte der Gesetzgeber die Entscheidungskompetenzen vor Ort stärken und eine möglichst unbürokratische Lösung schaffen. Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, jedoch erschließt sich nicht, warum im Gesetz nicht einmal grundlegende Mindeststandards und Verfahrensrechte festgehalten sind. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.06.2024 13:00
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite