Aus der ZKM

Die polarisierte Gesellschaft (Kleve, ZKM 2024, 65)

Leben wir tatsächlich in einer polarisierten Gesellschaft? Und wenn ja, zwischen welchen Polaritäten verlaufen die Konfliktlinien? Diese Fragen werden derzeit nicht nur in der akademischen Soziologie, sondern auch in den Medien, der Politik und den alltäglichen Lebenswelten kontrovers diskutiert. Angesichts von dramatischen und aufeinanderfolgenden Krisen prallen gegensätzliche Positionen aufeinander, die das Potential haben, die Bevölkerung in ihren Bewertungen zu spalten. Wie lassen sich solche Konflikte verstehen? Und vor allem: Welche Lösungs- und Vermittlungsmöglichkeiten können angedacht werden?


Lieber Herr Münch, das Thema „Polarisierte Gesellschaft“ ist gerade sehr aktuell. Sie haben dazu kürzlich Ihr neues Buch publiziert (R. Münch: Polarisierte Gesellschaft. Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe. Frankfurt/M., 2023). Und in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift habe ich das aktuelle Werk von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser rezensiert, das diesbezüglich etwas vorsichtiger ansetzt und die These von der Polarisierung befragt. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen Ihrer Position und derjenigen von Mau und Kollegen.

Mit den genannten Autoren stimme ich darin überein, dass die große Mehrheit der Bevölkerung gemäßigte Positionen zwischen den Extremen vertritt. So hat meine Auswertung von Leserzuschriften zu Artikeln in führenden Tages- und Wochenzeitungen zu kontroversen Themen ergeben, dass die Leser z.B. nicht grundsätzlich gegen Eurorettung, Migration, Klimaschutz oder die Respektierung von Identitäten votieren, sondern sich wünschen, dabei die Grenzen der Ausgewogenheit bezüglich widerstreitender Ziele und Interessen und der ökonomischen Tragfähigkeit nicht zu überschreiten, Wohlstandseinbußen zu vermeiden sowie auf eine gerechte Lastenverteilung und die Erhaltung der grundrechtlich garantierten bürgerlichen Freiheiten zu achten. Das sind genau die von Mau, Lux und Westheuser identifizierten „Triggerpunkte“. Jenseits dieser Triggerpunkte nimmt jedoch die Akzeptanz politischer Maßnahmen deutlich ab. Zudem werden die gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblich durch die politische Arena bestimmt. Was in dieser Arena geschieht, strahlt auf die ganze Gesellschaft aus und besitzt deshalb größte Relevanz für die Verhältnisse, in denen wir leben. Und diese Arena ist in der Gegenwart hochgradig polarisiert.

Worin äußert sich Ihrer Ansicht nach die Polarisierung in der politischen Arena, und was treibt sie an?

Hinsichtlich der politischen Polarisierung sehe ich die Grünen auf der einen und die AfD auf der anderen Seite. Der Gegensatz zwischen diesen Parteien ist auch in ihrer Verwurzelung in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sichtbar. Das typische Milieu der Grünen ist das im Staatsdienst tätige oder dort hinstrebende, gut und sicher positionierte akademische Milieu. Das typische Milieu der AfD ist das privatwirtschaftlich tätige, mehr dem Wettbewerb ausgesetzte und weniger sicher positionierte Milieu von kleineren Gewerbetreibenden, Handwerkern, Landwirten und Arbeitern. Während das eine Milieu als „progressiv“ und „links“ gilt, wird das andere als „konservativ“ und „rechts“ verortet. Zugleich können wir eine Verschiebung der Diskurshoheit beobachten, die bei den „progressiven“ bzw. „linken“ Positionen liegt. Mit dieser Verschiebung hat sich auch der „Triggerpunkt“ von Positionen verschoben, die als „rechts“ bzw. „extremistisch“ gelten. Das bedeutet, dass ehemals in der Mitte zwischen „konservativ“ und „progressiv“ stehende Positionen schon als „rechts“ bis „rechtsextrem“ eingestuft werden können. Das trifft auch ehemals als moderat geltende Positionen, die inzwischen als „europafeindlich“, „fremdenfeindlich“, „klimaleugnend“, „rassistisch“ und „transphob“ gebrandmarkt werden. Im Gegenzug sehen die so Etikettierten den Extremismus auf der Regierungsbank sitzen, d.h. am äußersten Pol von „progressiv“. Je mehr dann die Parteien der Mitte die kontroversen Themen den populistischen Parteien überlassen, umso mehr Zulauf können diese auch von Bürgern mit gemäßigten Einstellungen verbuchen. Die mit den kontroversen Themen verbundenen Probleme werden dauerhaft nicht gelöst. Dadurch wird die Polarisierung in der politischen Arena weiter gesteigert.

An welchen Gegensatzpaaren ist die von Ihnen genannte Polarisierung denn noch erkennbar?

Ich sehe insgesamt sieben Gegensatzpaare, an denen die Polarisierung erkennbar ist, nämlich erstens den Kampf um den richtigen Ort der Demokratie, der sich anhand des Gegensatzes zwischen Globalismus und Kommunitarismus bzw. Nationalismus zeigt, zweitens den Gegensatz zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital bzw. zwischen Bildungsbürgertum und gewerblichem Bürgertum sowie Arbeiterklasse; drittens den Gegensatz zwischen Rechts und Links, zwischen der postbürgerlichen und der altbürgerlichen Rechten sowie zwischen der postmodernen und der altmodernen Linken; viertens den Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie; fünftens die Dichotomie zwischen Etablierten und Außenseitern und die damit verbundenen Verteilungskonflikte der Identitätspolitik; sechstens den Gegensatz zwischen herrschenden vs. beherrschten Klassen und Gruppen; und schließlich siebtens den politisch sichtbarsten Antagonismus zwischen den herrschenden Eliten und dem aufbegehrenden Populismus. Dieser siebte Antagonismus wird umso mehr gesteigert, je weniger die Politik auf die Bedingungen Rücksicht nimmt, unter denen die Bürger bereit sind, politische Maßnahmen zu kontroversen Themen mitzutragen. Je weniger das der Fall ist, umso mehr werden auch gemäßigte Wähler in die Arme populistischer Parteien getrieben. Das bedeutet auch, dass die genannten Antagonismen zu vielfältig sind, um ihnen mit dem Schema „konservativ versus progressiv“ vollauf gerecht werden zu können.

Als Soziologe schauen Sie ja auch auf sozialstrukturelle Entwicklungen der Gesellschaft. Sehen Sie diesbezüglich ebenfalls Veränderungen, die mit den beschriebenen Polarisierungen zu tun haben, diese gewissermaßen mit bedingen?

Jede Gesellschaft ist durch mehr oder weniger tiefgreifende Spaltungslinien zwischen Klassen, Schichten und Gruppen geprägt. So können wir klassisch die Hauptspaltungslinien zwischen Arbeit und Kapital, Staat und Kirche, Stadt und Land sowie Zentrum und Peripherie sehen. Mit Blick auf die „alte“ Bundesrepublik bis hinein in die 1990er Jahre hat die Übersetzung der Spaltungslinien in das Parteiensystem (CDU und SPD als große Volksparteien) dafür gesorgt, dass Konflikte zwischen den Klassen und Gruppen institutionalisiert und zivilisiert in demokratischen Entscheidungsverfahren ausgetragen wurden. Dazu kam ein großer Industriesektor. Und eine enge Kooperation zwischen großen Arbeitgeberverbänden und Einheitsgewerkschaften in der engen Verbindung von Industrieunternehmen und Banken bescherten große Beschäftigungssicherheit und hohe Lohneinkommen in der Breite. Die christlichen Großkirchen, eine Vielzahl von Vereinigungen und Vereinen der Zivilgesellschaft und schließlich unangetastet glaubwürdige öffentlich-rechtliche und private Medien haben ebenso zur sozialen Integration und erleichterten Konsensbildung beigetragen. In dieser Gesellschaft waren die mit den genannten Spaltungslinien einhergehenden Konflikte so weit überwunden, dass sie in institutionalisierten Verfahren friedlich abgearbeitet werden konnten, in Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, in der parlamentarischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition und innerhalb von Parteien und Regierungskoalitionen in der ständigen Kompromissbildung zwischen unterschiedlichen Werthaltungen und Interessen. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 14.05.2024 15:56
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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