Aktuell in der ZKM

Die ÖRA – ein Multi-Door Courthouse in Hamburg (Hartges, ZKM 2023, 152)

Der Artikel schaut zurück auf 100 Jahre Öffentliche Rechtsauskunft und Vergleichsstelle Hamburg (ÖRA) mit rund „2.500 Verfahren“ (www.hamburg.de/oera) der außergerichtlichen Streitbeilegung sowie 33.000 Rechtsberatungen. Die jüngere Gegenwart wird analysiert. Das Potential dieser gewachsenen Struktur insbesondere für die Mediation und die anderen ADR-Verfahren (Alternative Dispute Resolution) wird gehoben und Begrenzungen benannt. Fallbeispiele illustrieren die Praxis des Multi-Door Courthouse.

A. Die Geschichte bis 1945 – sagt uns was zum Heute

B. Nach 1945: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ (Thomas Morus)

I. Die ÖRA-Gütestelle

II. Die Mediation

III. Sühneverfahren

C. Zwischen 2019 und 2021

D. Ausblick


A. Die Geschichte bis 1945 – sagt uns was zum Heute

In weiten Kreisen der Justizöffentlichkeit wurde zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts die Thematik des Zugangs zum Recht für arme Menschen und stets zugleich die außergerichtliche gütliche Einigung und Schlichtung diskutiert. 1922 konstituierte sich in Hamburg zuerst die Rechtsauskunftsstelle. Hauptinitiatoren waren zuvor neben den staatstragenden, aber demokratisch gesinnten Teilen der Justiz bedeutende Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterschaft und der Frauenbewegung. Ziel war der Zugang zum Recht in jeglicher Form. Für eine schnelle, nahe und kostengünstige Streitbeilegung engagierten sich bspw. die Arbeitersekretariate und der Zentralverband der Hausangestellten Deutschlands, in dem in Hamburg im Jahre 1909 allein 8.000 Dienstmädchen organisiert waren. Diese Arbeit war ehrenamtliche Arbeit und das Ehrenamt prägt bis heute die ÖRA!

Der Zusammenschluss all dieser Initiativen im Hamburgische Verein der Rechtsauskunftstellen begrüßte die 1920 erfolgte Übernahme durch die Behörde für Wohlfahrtspflege, denn damit war auch eine regelmäßige finanzielle Unterstützung und Einführung bezahlter Arbeit möglich; es wurde aber schon damals ausdrücklich vermerkt: „Die Aufgabe der Rechtsauskunftstellen erschöpft sich nicht etwa darin, Rechtsrat zu erteilen, sondern erstreckt sich auch darauf, nach Anhörung beider Parteien Rechtsstreite zu schlichten.“

Schließlich wurde am 4.10.1922 die Rechtsauskunftstelle als Teil des Wohlfahrtsamtes eröffnet. Mit der Novellierung der ZPO und der Einfügung des damaligen § 495a Abs. 1 Ziff. 1 am 1.6.1924 wurden obligatorische Gütestellen gesetzlich verankert, und schon im September 1924 erklärte die Justizverwaltung die Öffentliche Rechtsauskunft zur Gütestelle i.S.d. § 495a Abs. 1 Ziff. 1 ZPO. Diese firmierte fortan als Ragü (Rechtsauskunft und Gütestelle), erhielt eine Geschäftsordnung und erblühte in den 9 Jahren bis 1933. Sie war Vorbild für vergleichbare Bestrebungen in Deutschland und bewirkte auch, dass die anderenorts schon im Juli 1933 abgeschlossene Einverleibung der Öffentlichen Rechtsauskunftsstellen in die NS-Rechtsbetreuung in Hamburg länger dauerte.

B. Nach 1945: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ (Thomas Morus)

Offensichtlich haben vereinzelte und manchmal vereinte Kräfte unter der Oberfläche geschlummert; denn schon am 4.2.1946, d.h. noch vor der Verabschiedung der vorläufigen Hamburgischen Landesverfassung (15.5.1946) und vor der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23.5.1949, also noch unter britischer Oberhoheit, wurde die Ragü wiedereröffnet – jetzt als ÖRA. Neben den Aufgaben der Rechtsauskunft und Gütestelle kam als drittes Element die ÖRA als Vergleichsbehörde i.S.d. § 380 StPO hinzu.

In der ersten Nachkriegszeit gab es kaum einen Justizapparat, der frei von Naziunrecht war. Im Gegenteil, die Hamburger Justiz war besonders tief verstrickt gewesen; dennoch mussten (Rechts-)Konflikte alltäglich geregelt werden. Deshalb wurde die ÖRA von der Oberhoheit der Engländer „re-etabliert“. Ein Beispiel zeigt die Effizienz: Unter dem Dach der ÖRA wurden bspw. die sog. „Eppendorfer Richtlinien“ entwickelt, die Grundlage späterer Rechtsprechung wurden. Sie gaben für die alltäglichen Probleme zwischen eher reichen Inhaberinnen oder Mietern von großen Wohnungen im Stadtteil Eppendorf und genau dort einquartierten Geflüchteten und „displaced persons“ Lösungsparameter vor. Es ging um das schlichte, aber schwierige Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen; es ging um Wasser‑, Licht- und Wärmequellennutzung, um Ordnung und Bezahlung.

Später entwarf die ÖRA Vorläufer zur heute bekannten Düsseldorfer Tabelle, die als Unterhaltsleitlinien veröffentlicht und gemeinhin auch von den Gerichten anerkannt wurden. Verlobte wurden zeitweise obligatorisch zum Eherecht beraten und bevor eine Scheidung möglich war, wurde vor der ÖRA ein obligatorischer „Sühneversuch“ unternommen. Später, Ende der 70iger und in den 80iger Jahren, wurde eine Vielzahl von außergerichtlichen vollstreckbaren Gütevergleichstiteln rund um die Themen Scheidung und Scheidungsfolgen geschaffen. Mit der Einführung von Notarvorbehalten, von qualifizierter Rechtsbesorgung durch Fachanwälte und den Möglichkeiten der Jugendämter reduzierte sich das später. Eine große Affinität zu Familien- und Frauenthemen blieb bestehen, denn die Mehrzahl der ÖRA-Kunden waren und sind weiblich. Auch die Mediation hat 1995 in Familienkontexten begonnen. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.10.2023 08:04
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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