Aktuell in der ZKM

Weniger Klagen, mehr Konfliktmanagement? (Meller-Hannich/Nöhre/Höland, ZKM 2023, ZKM0057057)

Die Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Klageeingangszahlen in der Ziviljustiz muss selbstredend auch das Konfliktmanagement außerhalb der staatlichen Justiz in den Blick nehmen. Sind Streitigkeiten dorthin „abgewandert“? Insbesondere die Schlichtung, die Schiedsgerichtsbarkeit und die Mediation sind mögliche Alternativen. Ein Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) kommt zu einem differenzierten Ergebnis: ADR-Verfahren gewinnen an Bedeutung und geben Hinweise auf mögliche Defizite in der staatlichen Justiz – den Rückgang können sie (allein) jedenfalls nicht erklären.

I. Einführung zum Forschungsprojekt des BMJ
II. Methodische Untersuchung und Zugänge im Bereich ADR
III. Ergebnisse betreffend die (Verbraucher-)Schlichtung
IV. Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit

1. Praktische Bedeutung und Vorteile der Schiedsgerichtsbarkeit
2. Abwanderungsbewegungen?
V. Einfluss der Mediation
VI. Ergebnis


I. Einführung zum Forschungsprojekt des BMJ

Seit dem Ende der 1990er Jahre gehen bei den rund 750 AG und LG in Deutschland jedes Jahr weniger Klagen in Zivilsachen (ohne Familiensachen) ein. Darin zeigt sich eine auffallende Umkehr eines langjährigen Trends. In den Jahrzehnten davor hatte die Ziviljustiz in (West-) Deutschland starke Zuwächse erlebt, die den Gesetzgeber mehrfach veranlassten, den steigenden Geschäftsanfall durch Entlastungsgesetze beherrschbar zu machen. Was hat sich geändert? Welche Ursachen hat der inzwischen seit über zwei Jahrzehnten andauernde Rückgang der Eingangszahlen? Gibt es tatsächlich „Nichts zu klagen?“, wie eine Fachkonferenz Ende 2015 an der Universität Halle fragte? Ist die Gesellschaft friedfertiger geworden, wie in manchen Medien vermutet wurde, oder haben die Angebote der Alternativen Streitbeilegung die staatliche Rechtspflege zurückgedrängt?

Um wissenschaftlich belegte Antworten auf die Fragen zu finden, vergab das Bundesministerium der Justiz (BMJ) im September 2020 den Auftrag zur Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten an eine Forschungsgruppe, die aus zwei sozialwissenschaftlich und juristisch zusammengesetzten Teams bestand. Der Bericht, der nach zweieinhalb Jahren Forschung Ende April 2023 an das BMJ übergeben wurde, ist online zugänglich. Er findet, wie im Folgenden ausgeführt wird, keine nennenswerten Hinweise auf ein geringer gewordenes Konfliktpotential in Deutschland. Wohl aber kann der Bericht auf die vor allem in der Wirtschaft verstärkten Vorkehrungen gegen das Entstehen von Streitigkeiten und auf ein größer gewordenes Angebot zur Beilegung entstandener Streitigkeiten außerhalb staatlicher Gerichte verweisen.

II. Methodische Untersuchung und Zugänge im Bereich ADR
In längerfristigen Veränderungen im Geschäftsanfall von Gerichten schlagen sich Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft nieder, an denen unterschiedliche Ereignisse und Akteure mitwirken. Entsprechend komplex angelegt sein muss das methodische Vorgehen für die Untersuchung der Ursachen solcher Veränderungen. Das Projekt zu den Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten führte verschiedene methodische Ansätze zusammen, um die Forschungsfrage beantworten zu können.

An die Auswertung von Erklärungsansätzen in der rechtswissenschaftlichen Literatur schloss sich eine statistische Analyse der zivilgerichtlichen Verfahren an AG und LG an. Sie umfasste den zeitlichen Verlauf der Eingangszahlen in den beiden zivilgerichtlichen Instanzen, unterschieden nach Sachgebieten, Verfahrensdauern, Erledigungsarten und anderen Merkmalen der Gerichtsverfahren.

Zur Auswertung der Eingangs- und Erledigungszahlen kam als weiterer methodischer Ansatz die Analyse von Rechtsprechung und Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts hinzu. Ihr lag die Annahme zugrunde, dass aus diesen beiden großen juristischen Praxisfeldern Anstöße sowohl zur Vermehrung als auch zur Verminderung zivilgerichtlicher Streitigkeiten kommen können. Die Annahme, dass gesetzliche Neuregelungen tendenziell die Klagezahlen erhöhen, Rechtsprechung hingegen mit ihrer klärenden und konsolidierenden Funktion meist vermindernd auf Klagezahlen einwirkt, ließ sich an ausgewählten Beispielen bestätigen. Auch wenn der Kausalitätsnachweis im Einzelfall schwierig ist, ergeben sich aus der parallelen Betrachtung mit den statistisch abgebildeten Verläufen von Klagezahlen plausible Hinweise auf den Einfluss bestimmter Gesetze und Gerichtsentscheidungen auf das unternehmerische und private Klageverhalten.

Einen weiteren wichtigen Zugang zur Forschungsfrage nach den Ursachen des Klagerückgangs bilden die Auswertung von Befragungs- und Interviewdaten sowie die Analyse ausgewählter amts- und landgerichtlicher Akten. Diese Gruppe von Methoden umfasst die repräsentative Befragung von 7.500 Personen im Mindestalter von 18 Jahren über ein Online-Access-Panel zu zivilrechtlichen Konflikten und daraus folgenden Gerichtsverfahren. Hinzu kommt die computergestützte telefonische Befragung von 300 Unternehmen in sechs Wirtschaftszweigen, ebenfalls zu zivilrechtlichen und -gerichtlichen Streitigkeiten und zu Strategien ihrer Vermeidung.

Weitere Befragungsdaten lieferte eine Online-Befragung der Anwaltschaft, an der sich 2.709 Personen aus dem Einzugsgebiet von 16 Rechtsanwaltskammern beteiligten. Eine anschauliche Ergänzung zu der standardisierten Online-Befragung bilden insgesamt 16 Einzelinterviews mit Anwältinnen und Anwälten aus unterschiedlichen Regionen und Kanzleistrukturen.

Auf den gerichtlichen Verfahrensablauf und die Justizorganisation bezogene Daten, Wahrnehmungen und Meinungen lieferte die Auswertung von 660 Gerichtsakten bei drei AG und drei LG in wirtschaftsstrukturell unterschiedlichen Regionen. Ergänzt und vertieft werden die Ergebnisse der Aktenanalysen durch 14 Interviews mit Richterinnen und Richtern aus zehn verschiedenen Gerichten.

Der genaueren Erfassung des möglichen Einflusses Alternativer Streitbeilegung und des unternehmensinternen Beschwerdemanagements auf den Rückgang der Eingangszahlen diente die Erhebung von Daten bei Schlichtungsstellen und Schiedspersonen sowie die Auswertung von acht Interviews mit Leitungspersonen aus Schlichtungsstellen und Verbraucherzentralen.

Ebenfalls auf leitfadengestützten Interviews beruhen die Erkenntnisse des Forschungsprojektes zu den Wirkungen von Rechtsschutzversicherungen (RSV) im Hinblick auf den Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten. An den mit RSV geführten Expertengespräche nahmen jeweils leitende Personen aus der Geschäftsführung der zehn größten Rechtsschutzversicherer in Deutschland und aus dem entsprechenden Referat des Gesamtverbandes der Versicherer (GDV) teil.

Soweit sinnvoll, führte die Forschungsgruppe verschiedene der genannten Methoden zu bestimmten Fragen und Erscheinungen zusammen und überprüfte damit die Plausibilität der Ergebnisse. Entstanden ist auf diese Weise ein Kreis von Beobachtungspunkten um die Forschungsfrage nach den Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen und die das Verständnis von Ergebnissen erleichternde Möglichkeit, unterschiedliche Sichtweisen auf dasselbe Geschehen miteinander zu vergleichen.

III. Ergebnisse betreffend die (Verbraucher-)Schlichtung
Die Eingangszahlen bei den Schlichtungsstellen sind während des Untersuchungszeitraums kontinuierlich gestiegen. Sie betrugen nach unseren Erhebungen im Jahr 2005 43.275 und haben sich mit 101.200 Verfahren im Jahr 2019 mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung ist gegenläufig zur Entwicklung der Eingangszahlen in der Zivilgerichtsbarkeit. Die Schlichtungsstellen verzeichnen einen Aufwuchs von 50.000 bis 60.000 Verfahren, während die AG und LG im gleichen Zeitraum ca. 500.000 Klageverfahren verlieren. Die Gegenüberstellung dieser Zahlenmengen zeigt freilich zugleich, dass die Schlichtung...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.07.2023 14:57
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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