Aktuell in der ZKM

„Wenn der Feind im Raum ist, schaut man nicht nach innen!“ (Schweizer, ZKM 2023, 94)

Dass es sinnvoll ist, in der Mediation mit Einzelgesprächen zu arbeiten, ist mittlerweile allgemein anerkannt. Wie aber muss ein solches Einzelgespräch gestaltet werden, damit nach psychologischen und neurobiologischen Wirksamkeitskriterien tatsächlich eine Verhaltensveränderung eintreten kann? Adrian Schweizer, erfahrene Mediator, Coach und Konfliktlösungsberater, vertritt einen integrativen Interventionsansatz, der neben dem kognitiv-sprachlichen Teil des Hirns auch das limbische System einbezieht. Im Beitrag erläutert er den wirksamkeitswissenschaftlichen Hintergrund und skizziert sodann die praktische Anwendung anhand eines Fallbeispiels.


I. Hintergrund

II. Die subjektive Sicht: Ich

III. Die inter-subjektive Sicht: Du und Wir

IV. Die objektive Sicht: Er/Sie

V. Die inter-objektive Sicht: Es

VI. Fallbeispiel: „Das ist Leerlauf, da verändert sich nichts!“

VII. Schluss


I. Hintergrund

Nachdem ich als Soldat und später als Unteroffizier und Offizier die Konfliktlösung mit Macht gelernt und eingeübt hatte, widmete ich mich im Jurastudium der Konfliktlösung mit Recht. Als Untersuchungsrichter und später als Anwalt bemerkte ich, dass weder Macht noch Recht Konflikte nachhaltig und langfristig lösen können. Die Frauen, die von ihren Männern geschlagen wurden, fanden nach der Trennung und Bestrafung des Schlägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen anderen Mann, der sie wiederum geschlagen und so ihr (unbewusstes) Bedürfnis nach Intensität, das scheinbar stärker war als das nach Sicherheit, befriedigt hat. Der Manager, der gefeuert wurde, weil er sich aus Harmonie-Gründen nach unten solidarisiert hat, tat das gleiche bei einem anderen Arbeitgeber und flog wieder raus, obwohl ich ihm gesagt hatte, er solle es bitte unterlassen.

Mir wurde immer klarer, dass äußere Konflikte „nur“ die Manifestation von inneren Inkongruenzen sind. Wer noch nicht akzeptiert hat, dass er selbst ein gnadenloser Angeber ist, wird mit Vehemenz alle Angeber, die er zu erkennen glaubt, verachten. Ich ging nach Amerika und studierte bei Robert Dilts an der University of California in Santa Cruz Coaching, was wir damals als „Therapie für Gesunde“ bezeichnet haben. Vor allem mit dem Re-Imprinting Verfahren, in welchem wir über körperlich-gefühlsmäßige Interferenzen auf der persönlichen Zeitlinie frühe Prägungssituationen, die auch nach 40 und mehr Jahren noch unser Verhalten bestimmen, finden und umprägen können, hatte ich großen Erfolg. Anfang der Neunzigerjahre begann ich mich auch mit Verhandeln und Mediation zu beschäftigen. Besonders in der Mediation, aber auch in der Verhandlungsvorbereitung, wurde mir schnell klar, dass es unabdingbar ist, mit den Klienten oder Medianden Einzelgespräche zu führen, wenn nicht nur oberflächliche, kurzzeitig wirkende Erfolge erzielt werden sollen. Ich erfand dafür das Bonmot „Wenn der Feind im Raum ist, schaut man nicht nach innen!“

Wie bin ich darauf gekommen? Ich habe mich gefragt, wo wir in der Konfliktlösung mit Macht hinschauen? Natürlich ständig auf den Gegner. Denn wenn wir diesem nicht die volle Aufmerksamkeit schenken, rammt er uns ein Messer in den Rücken. Wo schauen wir vor Gericht hin? Wir schauen den Richter oder die Richterin an und versuchen, diese von unseren Ansprüchen zu überzeugen. Und beim Interessenausgleich, etwa in der Mediation, wo schauen wir da hin – auf den Gegner, auf den Mediator? Vermutlich am Anfang, aber dann wird uns der Mediator fragen, was unsere wahrhaftigen Interessen hinter den Positionen sind. Und wo finden wir diese? Richtig, wir müssen nach innen schauen! Gerade dies fällt bekanntlich aber schwer, wenn die Gegenseite vor einem steht. Wir sind seit undenklichen Zeiten darauf konditioniert, dass es höchst gefährlich ist, dem Feind nicht die volle Aufmerksamkeit zu schenken, da wir sonst gefressen werden. Die das nicht geglaubt haben, sind von der Evolution aussortiert worden. Und so sind wir die Nachkommen der Vorsichtigen, vielleicht sogar der paranoiden Lebewesen, die nicht nach innen schauen, wenn der Feind in der Nähe ist.

Aus dieser Erkenntnis heraus habe ich in der Mediation begonnen, die Parteien nach dem ersten Treffen zu separieren und mit ihnen Einzelgespräche zu führen – zu einer Zeit als diese Praxis in Mediationskreisen noch weitgehend verpönt war. Nachstehend will ich aus der Sicht der Forscher, welche die Wirkung von Interventionen untersuchen, begründen, warum alle Mediatoren Techniken und Modelle kennen und beherrschen sollten, die zum Führen von Einzelgesprächen nützlich sind. Dabei orientiere ich mich wissenschaftstheoretisch am AQAL-Modell von Ken Wilber und betrachte das, was ich darstelle, aus vier Perspektiven: subjektiv und inter-subjektiv, objektiv und inter-objektiv.

II. Die subjektive Sicht: Ich

Lucas Derks geht in seiner Mental Space Psychologie davon aus, dass alle unsere Gefühle und Gedanken sowohl elektrochemisch im Gehirn selbst als auch als Manifestationen um uns herum im dreidimensionalen Raum gespeichert sind. Er nimmt weiter an, dass das Hirn im Kern ein GPS ist, das uns und der anderen Fauna hilft, sich im Raum zurechtzufinden und sich an die Plätze zu erinnern, wo es „fette Beute“ gibt. Was zu 99,9995 % in der Evolution der Fauna entwickelt wurde, hat sich auch auf das Denken und die Sprache ausgewirkt, als sich diese vor einigen hunderttausend Jahren beim Menschen entwickelte. Alle unsere Gedanken und Gefühle haben deshalb, neben der elektrochemischen Speicherung im Hirn drin, eine zweite Speicherung als Manifestation im dreidimensionalen Raum.

Grinder und DeLozier gehen davon aus, dass man im 3D-Raum genau vier Perspektiven einnehmen kann und anders denkt und fühlt, wenn man sich im Raum dorthin bewegt, wo diese Manifestation auftaucht. Dabei beginnen sie mit der Ich-Perspektive und benennen diese als Wahrnehmungsposition 1. Die WP 2 ist die Perspektive des Anderen, die WP 3 die Perspektive eines neutralen Beobachters. Später wurde noch die WP 4, die Perspektive eines systemischen Beobachters, hinzugefügt. Dabei gibt es genau eine Ich-Perspektive (WP1), eine Beobachter-Perspektive (WP3), eine systemische Beobachter-Perspektive (WP4) und mittlerweile 8 Milliarden Du-Perspektiven (WP2). (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.06.2023 08:24
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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