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Von Bäumen, Blinden und Autofahrten zu kybernetischen Prämissen (Nagel, ZKM 2023, 53)

Die Wende zur Kybernetik 2. Ordnung brachte einen in seiner Brisanz nicht überzubetonenden Paradigmenwechsel mit sich. Gregory Bateson, einer der Wegbereiter der kybernetischen Denkweise, hat eindringlich darauf hingewiesen, dass das Überleben der menschlichen Gattung davon abhängen werde, inwiefern sie sich diese neue Denkweise zu eigen machen könne. In Zeiten von tragischen politischen, gesellschaftlichen und interpersonalen Konflikten drängt die Frage einmal mehr, wie diese Denkweise konkret umgesetzt werden kann. In diesem Beitrag werden drei kybernetische Prämissen herausgearbeitet und ihr Potential für die Lösung und Prävention von Konflikten beleuchtet.


A. Einleitung

B. Relevanz einer kybernetischen Denkweise

C. Drei kybernetische Prämissen ...

I. Die Berücksichtigung totaler Kreisläufe

II. Die eigene Verhaftung in der Welt

III. Die Rolle von Beobachtungen

D. ... und ihre Bedeutsamkeit für Konflikte

I. Wie grenze ich das System ab?

II. Inwiefern bin ich Teil des Geschehens?

III. Wer beobachtet, was und wie?

E. Fazit


A. Einleitung

1968 gelingt es Margret Mead (*1901, †1978) mit dem Artikel „Cybernetics of Cybernetics“  endlich,  ihrer Idee Gehör zu verschaffen, die Kybernetik auf die Gesellschaft der Kybernetik zu beziehen. Sie setzt damit den Grundstein für die Kybernetik 2. Ordnung – der Heinz von Foerster (*1911, †2002), wie auch dem Artikel von Mead, ihren Namen gibt. Als einer ihrer wichtigsten Vertreter wird er sie in den darauffolgenden Jahrzenten maßgeblich prägen. Diese vielleicht zunächst recht unspektakulär und unscheinbar anmutende Entwicklung bringt einen Paradigmenwechsel mit sich, der in seiner Relevanz kaum überzubetonen ist. Die Kybernetik der Kybernetik oder auch Kybernetik 2. Ordnung geht mit einer radikal neuen Denkweise einher, die sich zu unserer gewohnten Art und Weise der Erschließung der Welt häufig kontraintuitiv verhält. Gregory Bateson (*1904, †1980), ein weiterer wichtiger Vertreter der Kybernetik 2. Ordnung, verweist immer wieder auf die Relevanz dieser neuen Denkweise sowie auf die Schwierigkeit ihrer Umsetzung.  Diesem Beitrag liegt die Annahme zugrunde, dass eine erkenntnistheoretisch irrtümliche Denkweise sich insbesondere in Konflikten zeigt und deren Eskalation vorantreibt. Ziel der Ausarbeitung ist es, die kybernetische Denkweise in ihrem Potential als Gegenspielerin zu Eskalation und Kontrollverlust über die Konfliktentwicklung zu veranschaulichen. Dazu werden zunächst drei Prämissen konkretisiert und anschließend ihre Viabilität  für den Umgang mit Konflikten aufgezeigt. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: Was zeichnet die kybernetische Denkweise und den damit einhergehenden Paradigmenwechsel aus? (s. unter B.) Welche Prämissen lassen sich von den grundlegenden kybernetischen Prinzipien ableiten? (s. unter C.) Inwiefern sind diese Prämissen im Hinblick auf den Umgang mit Konflikten relevant und viabel? (s. unter D.)

B. Relevanz einer kybernetischen Denkweise

„Die wichtigste Aufgabe heute besteht vielleicht darin, in der neuen Weise denken zu lernen. Lassen Sie mich sagen, daß ich nicht weiß, wie man in dieser Weise denkt. Intellektuell gesehen kann ich mich hier hinstellen und Ihnen eine durchdachte Darstellung des Problems geben; wenn ich aber einen Baum fälle, denk ich weiterhin, ‚ Gregory Bateson ‘ fällt einen Baum.“ (Bateson ).

Um zu verstehen, was die Kybernetik 2. Ordnung auszeichnet, soll zunächst kurz auf ihre Entwicklung eingegangen werden. Ihren Ursprung findet sie in der Kybernetik, die 1948 vom amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener (*1894, †1964) mit seiner gleichnamigen Publikation ihren Namen erhielt.  Die Kybernetik (1. Ordnung), zu griechisch „Steuermannskunst“, befasst sich zunächst mit der Erforschung der selbsttätigen Regelung technischer und biologischer Systeme. Im Verlauf der zehn in die Geschichte als legendär eingegangenen Macy-Konferenzen von 1946 bis 1953 entwickeln Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Disziplinen die kybernetischen Ideen in einem interdisziplinären Austausch weiter und legen bereits wesentliche Grundsteine für die folgende Kybernetik 2. Ordnung.  Der entscheidende Entwicklungsschritt liegt darin, dass die kybernetischen Prinzipien nun auch auf soziale Systeme, und damit auf die Beobachtenden selbst bezogen werden – wie von Margret Mead vorgeschlagen. Damit rückt zum einen die Untersuchung der Selbststeuerung sozialer Systeme in den Fokus und zum anderen wird gleichzeitig das reflexive Moment der Selbstbeobachtung unwiderruflich in der Auseinandersetzung verankert.

Eines der zentralen Prinzipien der Kybernetik und der damit einhergehenden Denkweise ist das der Zirkularität. Zusammenhänge im Sozialen werden nicht mehr als linear und kausal, also anhand stringenter Ereignisketten, sondern zirkulär, also unter Berücksichtigung von Rückwirkungen, verstanden. Neben der Zirkularität wird damit der Begriff der Rückkopplung, des rückbezüglichen Korrigierens, relevant. Er beschreibt, zunächst in der Biologie, die Fähigkeit von Organismen, auf Störungen zu reagieren und Verhalten dementsprechend zu verändern. Mit der Kybernetik wird er auch zur Beschreibung der Selbstregulierung technischer und sozialer Systeme herangezogen. Die Idee dabei ist es, soziale Systeme nunmehr auf ihre Selbststeuerung anhand rückbezüglicher Korrekturschleifen hin zu untersuchen, anstatt davon auszugehen, dass sie von außen auf einen bestimmten Output hin beeinflusst werden können. In Rückkopplungskreisläufen wird vielmehr „die Auswirkung einer Handlung zu einer Ursache für weitere Handlungen“. 

Bateson geht davon aus, dass das Überleben der Menschheit davon abhängen wird, ob wir es schaffen, die – wie er sie nennt – erkenntnistheoretischen Irrtümer unserer gewohnten Denkweise zu überwinden und in der neuen, kybernetischen Weise denken zu lernen: „Es ist zweifelhaft, ob eine Gattung, die sowohl eine fortgeschrittene Technologie als auch diese eigenartige Weltanschauung hat, überleben kann“.  Er weist darauf hin, dass „unser Bewusstsein systematische Verzerrungen beinhaltet, gravierende Fehleinschätzung komplexer Zusammenhänge, die das Gleichgewicht zwischen dem Menschen, der Gesellschaft und dem ökologischen Umfeld immer stärker zerstören“.  Neben der Dringlichkeit macht er gleichzeitig auch auf die Schwierigkeit der Umsetzung dieser Denkweise aufmerksam, wie das einführende Zitat veranschaulicht.

Den erkenntnistheoretischen Irrtümern gegenüber stehen Eigenschaften, die als Korrektive wirken können. Lutterer hat drei Korrektive, die sich bei Bateson finden lassen, herausgearbeitet: „Weisheit, Demut und Liebe“.  Es stellt sich die Frage, wie diese Korrektive konkret umgesetzt werden können.  Bateson versteht unter Weisheit „das Wissen um das größere Interaktionssystem“ und schreibt: „Mangel an systemischer Weisheit rächt sich immer.“  Was kann man sich konkret unter systemischer Weisheit vorstellen? Woran könnte diese festgemacht werden? Um diesen Fragen nachzugehen, werden im Folgenden drei kybernetische Prämissen herausgearbeitet, die sich bei den Kybernetikern mal mehr, mal weniger explizit finden lassen und die im Hinblick auf ihre Relevanz für Konflikte beleuchtet werden.  Es wird dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit angestrebt. Vielmehr handelt es sich um Vorschläge, die zur Disposition gestellt werden mit dem Anliegen und der Hoffnung, dass sie zur weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik anregen. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.05.2023 14:01
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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