Aktuell in der ZKM

Interpersonelle Synchronie: die Dialektik von Empathie und Konflikt (Tschacher/Bannwart/Storch, ZKM 2023, 14)

Aus Embodimentperspektive charakterisiert Synchronie soziale Interaktionen und ist definiert als die wechselseitige Koordination kommunizierender Individuen. Interpersonelle Synchronie hat sich zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt, wobei Befunde überwiegend für Synchronie als Zeichen und Ursache empathischer, prosozialer Interaktions-Merkmale sprechen. Synchronie hat zugleich aber ein zweites Gesicht und kann für konflikthafte Kommunikation stehen; dieser Dialektik muss sich Psychotherapie und Konfliktmanagement stellen.


I. Zahlreiche Facetten von Synchronie

II. Synchronie als spontane oder induzierte Musterbildung

III. Folgerungen für konflikthafte interpersonelle Interaktionen

IV. Fazit


I. Zahlreiche Facetten von Synchronie

Wir beginnen mit einer Materialsammlung: Welche sozialen Phänomene sind gemeint, wenn wir von „Synchronie“ sprechen? Als erstes wird deutlich, dass nicht nur die Phänomene, sondern auch die Terminologie und Begrifflichkeit für diese Phänomene vielfältig sind. Wenn man sich darauf bezieht, dass Verhalten in sozialen Kontexten häufig systematisch und überzufällig koordiniert vorliegt, bezeichnet man dies als Synchronie (und das ist auch der Begriff unserer Wahl), aber auch als interpersonelle Koordination, Imitation, Verhaltensadaptation, Resonanz, Ansteckung, Mimikry, Koppelung, entrainment. Wie oft in der Psychologie und den Sozialwissenschaften haben sich viele unterschiedliche Begriffe etabliert, die dieselben oder fast dieselben Phänomene bezeichnen (nicht selten auch erfinden Forscher eine neue Terminologie für alte Phänomene, um ein eigenes Feld zu begründen und markieren). Welche Phänomene sind also gemeint?

In alltäglichen Gesprächen verhalten sich die Teilnehmer einer Interaktion wohlkoordiniert, es wird etwa abwechselnd statt gleichzeitig gesprochen, der Sprecherwechsel erfolgt aufgrund körpersprachlicher und linguistischer Signale, derer sich die Sprecher nicht bewusst sein müssen. Wenn man dyadische Konversationen auf das Ausmaß der Bewegungen der interagierenden Personen hin auswertet, findet sich in der Regel signifikante Synchronie. Bewegungssynchronie wurde besonders auch im Psychotherapiekontext untersucht und gefunden. Die Bewegungserfassung mag sich auf die Synchronisierung der Kopfbewegungen zweier Personen, ihres gesamten Körpers oder nur der Handgestik beziehen. Unabhängig vom Ort ist in der Interaktion entstehende Bewegungssynchronie ein fast durchgängiger Befund. Das Ausmaß der Synchronie wurde zudem in Hinblick auf Korrelationen mit psychologischen Variablen untersucht. Dabei ergab sich überwiegend, dass Synchronie ein Indikator für Beziehungsqualität war (in Psychotherapie: Indikator für therapeutische Allianz) sowie auch mit prosozialen Variablen wie Empathie und positiver Affektivität verbunden war.

In den vergangenen Jahren hat sich die Forschung zur Synchronie auch anderen Maßen als den direkt beobachtbaren Körperbewegungen gewidmet. Körperbewegung kann durch Videoanalyse oder Verfahren des motion capture sehr ökonomisch aufgezeichnet werden, aber mit der zunehmenden Verbreitung tragbarer und ambulant einsetzbarer Geräte zur Aufzeichnung der Physiologie erweiterten sich die Möglichkeiten zur Datenerfassung deutlich. So wurden etwa physiologische Signale von interagierenden Personen erfasst und auf Synchronie hin untersucht, zunehmend auch in ökologisch validen Settings außerhalb des Labors. Einige Studien erhoben die elektrodermale Aktivität (EDA) und Hautleitfähigkeit in Psychotherapien oder psychiatrischen Interviews. EDA-Maße sind psychologisch interessant, da sie einen direkten Einblick in die Aktivität des sympathischen Nervensystems der Interagierenden erlauben. Elektrodermale Synchronie wurde bei Unterhaltungen zwischen Ehepaaren und in Paartherapien gefunden. Weitere peripher ableitbare physiologische Maße repräsentieren sowohl sympathische wie auch parasympathische Aktivierungen, wie etwa die Herzrate (HR). Die Herzratenvariabilität (HRV) wird häufig erhoben, da ihr hochfrequenter Anteil vor allem dem Parasympathikus zugeordnet werden kann. Für Synchronien von HR und HRV liegen Belege vor, dass sie in Paarinteraktionen auftreten und mit Empathie (HR-Synchronie in Paaren), Perspektivenübernahme (HRV-Synchronie in Paaren) und negativ mit Stress (HRV-Synchronie in Paaren) assoziiert waren. In Psychotherapien wurde neben den kardialen Synchronien auch die Atmungssynchronie gemessen. Atmungssynchronie zwischen Therapeut und Klient war signifikant vorhanden und verknüpft mit subjektiven Einschätzungen der therapeutischen Allianz und des therapeutischen Fortschritts. Obwohl Atmungssynchronie in Therapie und Coaching zu weithin vermuteten Mustern gehören, deren Manipulation als Interventionstechnik gilt (Pacing und Leading im „Neurolinguistischen Programmieren“, NLP), waren Belege für ihr spontanes Auftreten bislang kaum vorhanden.

Synchronie wurde auch experimentell untersucht. Es existiert eine sozialpsychologische experimentelle Tradition, in der koordinierte Bewegung instruiert wird, um dann ihre psychologischen Konsequenzen zu studieren. Dieser Forschungsbereich geht auf die Synergetik, insbesondere auf Arbeiten von Hermann Haken und Scott Kelso zurück, die zeigten, dass sich rhythmische Bewegungen etwa der beiden Zeigefinger einer Person spontan und selbstorganisiert miteinander synchronisieren, sobald der Rhythmus beschleunigt wird. Diese Koordinationsdynamik wirkt auch interpersonal, wenn zwei Personen sich bewegen und dabei unwillkürlich in ein gemeinsames Bewegungsmuster verfallen. Synchronie des Gehens ist ein oft berichtetes Beispiel von Koordinationsdynamik und kann auch zwischen einander fremden Personen auftreten. Ein anekdotischer Bericht betrifft etwa die bekannte Fußgängerbrücke Millennium Bridge in London, die durch die Gangsynchronie der Passanten in gefährliche Resonanzschwingungen versetzt wurde und deshalb zwei Tage nach Eröffnung im Jahr 2000 wieder geschlossen und saniert werden musste. Der Brücke drohte das Schicksal der „Resonanzkatastrophe“.

Chartrand & Bargh stellten die Frage, was die Konsequenzen von absichtlich herbeigeführter Synchronie sein können. In ihren Experimenten zu sog. Verhaltens-Mimikry (also Synchronie) wurde eine eingeweihte Person beauftragt, Versuchspersonen entweder aktiv nachzuahmen oder nicht, ohne dass diese davon wussten. Die imitierten Versuchspersonen beurteilten, verglichen mit den nicht-imitierten, die imitierende Person als sympathischer und die Interaktion insgesamt als angenehmer. Weitere Studien ergaben, dass bewusst eingesetztes Mimikry auch die Empathie zwischen Interaktanten erhöhte.

In diesem Zusammenhang ist man an einen Bereich des öffentlichen Lebens erinnert, der besonders durch hohe Synchronie charakterisiert ist: an Konzerte, Umzüge, allgemein an Rituale. Umzüge und besonders Militärparaden sind durch kollektives Gehen und Schreiten synchronisiert, oft im Gleichtakt mit rhythmischer Musik. Das offensichtliche Ziel von Ritualen ist die Erhöhung der Empathie und Kohäsion innerhalb des Kollektivs der Teilnehmer mittels instruierter Koordinationsdynamik. Auch bei der Tanzveranstaltung im Club oder bei Konzerten steht Synchronie im Mittelpunkt: Untersuchungen zeigen, dass sogar im klassischen Konzert Zuhörer im Publikum sich untereinander stark synchronisieren, dies hinsichtlich ihrer Körperbewegung wie auch hinsichtlich physiologischer Maße wie Herzrate, Atemrate und Hautleitfähigkeit. Gerade im klassischen Konzertformat ist es nicht die Interaktion untereinander im Publikum, die diese Synchronie bewirkt, sondern die Induktion von Körperrhythmen durch die Musik.

Eine Vielzahl von Befunden spricht somit für das prosoziale Gesicht von Synchronie – Synchronie als Ausdruck wie auch als Ursache von Empathie. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 07.03.2023 11:34
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite