Aktuell in der ZKM

Persönlichkeitsstörungen in der Mediation

Von Dipl.-Psych. Jens Glowka und Prof. Dr. Rainer Sachse

Der Artikel beleuchtet die Rolle von Persönlichkeitsstörungen in der Mediation. Es wird ein psychologisches Modell vorgestellt, welches dabei hilft, Persönlichkeitsstörungen besser zu erkennen und zu verstehen. Eine Form der konstruktiven Beziehungsgestaltung wird skizziert.


I. Persönlichkeitsstörungen verstehen

II. Was sind Persönlichkeitsstörungen?

III. Beziehungsmotive

1. Anerkennung

2. Wichtigkeit

3. Verlässlichkeit

4. Solidarität

5. Autonomie

6. Grenzen/Territorialität

IV. Schemata

1. Selbstschemata

2. Beziehungsschemata

V. Kompensatorische Schemata

VI. Manipulation

VII. Beziehungsgestaltung in der professionellen Beziehung

VIII. Komplementäre Beziehungsgestaltung



I. Persönlichkeitsstörungen verstehen

Es gibt Arbeitsbeziehungen, wie in der Mediation, der Beratung oder der Psychotherapie, die für einen Erfolg der Arbeit essenziell sind. Gelungene Interaktion und Kommunikation ist sozusagen der Kern der Zusammenarbeit.

Wir machen in solchen Berufen die Erfahrung, dass die Interaktion mit einigen Klienten sehr natürlich und leicht gelingt, mit anderen Klienten jedoch eine große Herausforderung sein kann. Gelegentlich beschleicht uns sogar das Gefühl, ein Klient würde die Interaktion mit Absicht besonders schwer machen oder sogar den Prozess blockieren/sabotieren.

In derartigen Fällen ist es gut möglich, dass unser Gegenüber eine Persönlichkeitsstörung oder einen ausgeprägten Persönlichkeitsstil aufweist. Was das bedeutet und wie ein guter Umgang mit solchen Interaktionssituationen gelingen kann, möchten wir im Folgenden beleuchten.

II. Was sind Persönlichkeitsstörungen?

Im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen (PD für „personality disorders“) gibt es im Bereich der Psychotherapie verschiedene, sehr heterogene Konzepte. Konsens besteht weitgehend darin, PD primär als Beziehungs- bzw. Interaktionsstörungen aufzufassen.  Psychologisch gesehen sind PD hoch komplexe Störungen, bei denen viele psychologische Variablen und ihre Wechselwirkungen beteiligt sind. Da sie sich besonders in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen, kann eine PD im Kern als Beziehungsstörung aufgefasst werden: Personen mit PD realisieren ungünstige Interaktionsmuster, die hohe „Kosten“ erzeugen und auch Interaktionspartnern (IP) teilweise erhebliche Schwierigkeiten bereiten.

Mit Kosten sind diesbezüglich negative Auswirkungen auf das Individuum, sein Wohlbefinden und seine Beziehungen gemeint.

Aus psychologischer Sicht sind PD gut erklärbar und eine bestimmte PD (z.B. eine narzisstische PD) variiert von leichtem Stil bis zu einer schweren Störung. Damit haben wir es mit Variablen und z.T. mit „Extremvariablen“ eines normalen psychologischen Geschehens zu tun.

Es macht daher keinen Sinn, PD als „pathologisch“ zu bezeichnen: PD „funktionieren“ gut verständlich und sehr viele Personen – auch in Ihrem Bekanntenkreis – weisen wahrscheinlich eine mehr oder weniger ausgeprägte Akzentuierung auf!

In diesem Artikel geht es nicht um verschiedene Theorien zu PD. Vielmehr soll eine psychologische Konzeption vermittelt werden: Das Modell der Doppelten Handlungsregulation.

Aus empirischer Forschung wissen wir mittlerweile, dass dieses Modell in Theorie und Praxis zutreffende Vorhersagen erlaubt. Es ermöglicht, PD zu erkennen, zu verstehen und sinnvoll auf sie zu reagieren.

III. Beziehungsmotive

Wenn wir versuchen wollen, die Verhaltensweisen von Menschen mit PD zu verstehen, ist ein Blick in die Motivationspsychologie hilfreich. Personen mit PD weisen eine sehr hohe Beziehungsorientierung auf:  Das bedeutet, dass sie motiviert sind, von IP eine ganz bestimmte Art von Beziehung angeboten zu bekommen: Sie erhoffen sich, in bestimmter Weise behandelt bzw. nicht behandelt zu werden.

Die Grundlage hierfür sind sog. „Beziehungsmotive“, also psychische Strukturen, die dazu führen, dass eine Person bestimmte Arten von Beziehungssignalen will und braucht: Die Person hat ein starkes Bedürfnis nach bestimmtem Feedback. Auf gegenteilige Rückmeldungen oder Beziehungsangebote reagiert die Person mitunter äußerst sensibel und frustriert.

Wir unterscheiden sechs Beziehungsmotive:

1. Anerkennung

Eine Person, die anerkennungsmotiviert ist, möchte primär Feedback darüber, dass sie als Person positive Eigenschaften hat: Sie möchte hören, dass sie als Person „okay“ ist, dass sie intelligent, erfolgreich, ausdauernd und belastbar ist, dass sie gut aussieht usw. Eine Person, die dieses Beziehungsmotiv aufweist, will in Beziehungen kein kritisches Feedback über sich oder die eigenen Handlungen hören.

2. Wichtigkeit

Ist eine Person wichtigkeitsmotiviert, dann will sie Feedback darüber, dass sie wichtig ist, dass sie im Leben ihrer Mitmenschen eine zentrale Rolle spielt, u.Ä. Sie möchte von IP hören, dass diese gerne Zeit mit ihr verbringen, dass sie ernst genommen wird, dass sie (viel) Aufmerksamkeit bekommt usw. IP müssen also signalisieren, dass ihnen viel daran liegt, eine (enge) Beziehung zu der Person zu haben. Auch der Wunsch in Erinnerung zu bleiben oder vermisst zu werden, spielt oft eine große Rolle.

3. Verlässlichkeit

Personen, die ein starkes Motiv nach Verlässlichkeit aufweisen, wollen hören, dass der IP in der Beziehung bleiben wird, dass die Beziehung stabil ist und dass die Beziehung belastbar ist, also Konflikte und Probleme aushalten kann, ohne daran zu zerbrechen.

4. Solidarität

Das Motiv nach Solidarität bedeutet, dass ein IP signalisiert, dass er da ist und zur Verfügung steht, wenn die Person ihn braucht, also Feedback wie: „Wenn Du mich brauchst, bin ich für Dich da“; „wenn Du Hilfe brauchst, helfe ich Dir“; „wenn Du angegriffen wirst, stehe ich an Deiner Seite“. Und die Person möchte sich darauf verlassen können, dass sich ein IP nie mit Dritten gegen sie verbündet.

Ein solches Motiv, stark ausgeprägt, kann Mediationen deutlich erschweren. Solidarität des Mediators mit nur einer Konfliktpartei verbietet sich per definitionem.

5. Autonomie

Personen mit hoher Autonomie-Motivation wollen, dass IP ihnen Entscheidungsfreiheiten, und Handlungsspielraum ermöglichen. Es ist ihnen wichtig, in bestimmten Lebensbereichen eigenständig zu entscheiden, ohne dass IP sich hier einmischen oder Kontrolle ausüben.

6. Grenzen/Territorialität

Eine Person mit diesem Motiv möchte bestimmte Bereiche als „ihre“ definieren: Als ihr Territorium mit Grenzen, die IP nur mit Erlaubnis überschreiten dürfen. Dabei handelt es sich immer um physikalisch definierbare Domänen wie „mein Zimmer“, „mein Schreibtisch“, „mein Körper“ u.a.

Erfahrungsgemäß hat eine Person meist eines der genannten Motive weit oben in der Motivhierarchie, d.h., dass dieses Motiv elementar ist und die Person (sehr) viel tut, um es zu befriedigen. Auch die Befriedigung anderer Motive kann dafür gelegentlich hintenanstehen. Darüber hinaus kann die Person freilich weitere Motive aufweisen, die zumeist weniger relevant sind.

Hoch beziehungsmotiviert zu sein, bedeutet, dass eine Person in allen Beziehungen solche Arten von Feedback möchte, am stärksten aber natürlich in persönlich bedeutsamen. Das betrifft Freunde, Partner, Verwandte aber auch Arbeitskollegen, etc. Das impliziert auch, dass die Person in eine Beziehung zu einem Mediator, Therapeuten o.ä geht und von diesem dann auch in entsprechender Weise behandelt werden möchte.

Diese Wünsche und Erwartungen als Mediator zu ignorieren, ist ein recht sicherer Weg, den Erfolg der Interaktion und damit eine erfolgreiche Mediation auf’s Spiel zu setzen. Wir müssen davon ausgehen, dass Klienten mit einer PD ihre Verarbeitung oder ihr Verhalten nicht einfach „an der Garderobe“ ablegen können, selbst wenn sie es wollten. Dazu kommt, dass es sich bei den allermeisten Persönlichkeitsstilen oder PD um sog. „ich-syntone“ Strukturen handelt. Der Klient betrachtet also seine Gedanken und Empfindungen nicht als Störung, sondern als Teil seiner selbst, insbesondere deshalb, weil er nicht in der Lage ist, sich selbst zu reflektieren und sich aus einer anderen Perspektive zu bewerten.

Das bedeutet, Klienten wissen vermutlich nicht, dass sie betroffen sind und sie wissen meist auch nicht, dass sie ihre interaktionellen Kosten selbst verursachen.

An dieser Stelle gibt es nur zwei Möglichkeiten: Einerseits können wir als professionelle IP die PD schnell erkennen, uns darauf einstellen und die Motive unseres Klienten in unserem Verhalten berücksichtigen (wie das geht, werden wir weiter unten aufgreifen). Andererseits können wir aber auch den Klienten behandeln „wie jeden anderen Klienten auch“. Letzteres wird uns das Leben allerdings sehr viel schwerer machen und den Prozess eventuell sogar zum Scheitern bringen. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.01.2023 14:24

zurück zur vorherigen Seite