Aktuell in der ZKM

Mediation in der Midlife-Crisis? – eine Zwischenbilanz (Gläßer, ZKM 2022, 174)

Gut vierzig Jahre nach dem Beginn der systematischen Etablierung der Mediation in Deutschland zeigt die deutsche „Mediationsszene“ – zumindest teilweise – klassische Symptome einer Midlife-Crisis: das Gefühl von Stagnation, daraus resultierende Unzufriedenheit, Selbstzweifel und Zukunftssorgen. Nach kurzen Rückblicken auf wesentliche Etappen entlang der „Lebenslinie“ der Mediation in Deutschland betrachtet dieser Beitrag die aktuelle Ernüchterung und Ambivalenz und entwickelt zukunftsweisende Perspektiven.


I. Einführung: Mediation in der Krise?

II. Beginn mit großen Hoffnungen

III. Jugendliche Begeisterung – und Ungeduld

VI. Normative Nachhilfe

V. Ernüchterung

VI. Aktuelle Ambivalenzen

VII. Zukunftsperspektiven


I. Einführung: Mediation in der Krise?

Der Beginn der Etablierung von Mediation in Deutschland im Sinne des aktuellen Verfahrensverständnisses lag in den 1980er Jahren; wir können in diesem Jubiläumsheft also auf gut vier Jahrzehnte Entwicklungsgeschichte der modernen Mediation zurückblicken.

Bei Menschen setzt um den 40. Geburtstag, rund um die statistische Lebensmitte, häufig eine deutliche Krisenstimmung ein, die als „Midlife-Crisis“ bezeichnet wird und für die die folgenden Symptome bzw. Grundsatzfragen typisch sind: Das bisherige Leben, getroffene Entscheidungen und eingeschlagene Wege werden kritisch hinterfragt und in Zweifel gezogen. Ein Gefühl von Stagnation erzeugt große Unzufriedenheit – oft begleitet von Unsicherheit, Selbstkritik, Sorgen und Ängsten. Viele Menschen in dieser Phase empfinden sich auf einem „langweiligen Plateau“. Sie fragen sich, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll und was sie noch erreichen wollen bzw. können; häufig besteht eine starke Sehnsucht nach größeren Veränderungen.

Eine solche Midlife-Crisis ist zwar emotional in aller Regel ausgesprochen unkomfortabel, aber keine psychische Erkrankung. Sie ist vielmehr eine existentielle Selbstevaluation, eine fundamentale Sinnkrise, die biographisch eine wichtige, potentiell gewinnbringende Funktion hat.

So ist es grundsätzlich höchst sinnvoll, zu einem Zeitpunkt, an dem in der Regel noch ausreichend Energie und Lebenszeit zur Verfügung stehen, eine Zwischenbilanz zu ziehen – und damit die Chance zur Re-Evaluation von Lebensentscheidungen und innerem Wachstum zu haben. Als Ergebnis kann entweder das Fazit stehen, dass letztlich alles doch recht gut so ist, wie es ist; dies bringt neue Zufriedenheit und emotionale Stabilität mit sich. Oder die Einleitung von Veränderungen erscheint nötig, um zu einem (sinn-)erfüllteren und damit glücklicheren Leben zu gelangen.

Nehmen sich Menschen allerdings nicht die Zeit zu einer tiefergehenden Selbstreflexion ihrer Werte, Ziele und Weichenstellungen, sondern agieren ihre Unzufriedenheit eher oberflächlich-aktivistisch aus, dann kann eine Lebensmittekrise zu schmerzhaften Fehlentscheidungen oder auch zu einer Depression führen.

Sicherlich hat „die Mediation“ noch eine deutlich längere Lebenslinie als ein halbes Menschenleben vor sich. Nichtsdestotrotz häuften sich in den letzten Jahren die Stimmen, die einem Gefühl von Stagnation, Verunsicherung, Enttäuschung oder sogar Frustration – insbesondere wegen der scheinbar ausbleibenden Expansion des Mediationsmarktes – Ausdruck geben.

Exemplarisch dafür sei Heribert Prantl zitiert, der 2012 das Inkrafttreten des Mediationsgesetzes freudig begrüßt hatte: „[D]as Mediationsgesetz ist eine Orchidee. Sie sollte bald heimisch werden in der Flora des deutschen Rechts.“ Knapp zehn Jahre später auf dem KM-Kongress 2021 in Hannover konstatierte er dann ernüchtert: „Ich habe mich getäuscht. Ich war zu optimistisch. Statt der Orchidee ist ein Gänseblümchen gewachsen“.

Auch wenn diese Einschätzung sicherlich nicht repräsentativ für die gesamte „Mediationsszene“ ist, erscheint es angesichts der Ähnlichkeit der Symptome doch lohnend, die Metapher der Midlife-Crisis zum Ausgangspunkt für eine Zwischenbilanz und für Überlegungen zu einer möglichen Neujustierung von Zukunftsperspektiven der Mediation in Deutschland zu nehmen. Denn aus der konstruktiven Verarbeitung einer Midlife-Crisis gehen Menschen „gestärkt, selbstbewusst und mit neuen Zielen [...] hervor“ und es entsteht ein komplexeres und authentischeres Selbstbild. Dies täte auch der Mediation gut. 

Im Folgenden werde ich schlaglichtartige Blicke auf bisherige „Lebensabschnitte“ der Mediation in Deutschland werfen (2.-5.) und nach einer Betrachtung des aktuell ambivalenten Status quo (6.) einige Zukunftsperspektiven skizzieren (7.).

II. Beginn mit großen Hoffnungen

Als in den 1980er Jahren Mediation in Deutschland aus der Taufe gehoben wurde, standen überzeugte Menschen als „Paten“ bereit, von denen viele die Entwicklung der außergerichtlichen Streitbeilegung bis heute begleitet, unterstützt und vorangetrieben haben. Frühe Publikationen zeugen von Faszination und großen Hoffnungen bezüglich des (streit-)kulturverändernden Potentials dieses außergerichtlichen Verfahrens.

Mit einiger Verspätung hatte dann auch das Bundesverfassungsgericht der Mediation den vielzitierten Satz ins Stammbuch geschrieben: „Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung.“

Die meisten der in dieser Anfangszeit der Mediationsbewegung aufgeführten Gründe für eine mediative – also eine verständnis- und interessenorientierte, konsensbasierte, selbstverantwortliche und wertschöpfende – Konfliktbearbeitung sind nach wie vor aktuell und ziehen immer wieder aufs Neue Menschen in ihren Bann.

III. Jugendliche Begeisterung – und Ungeduld

Der vielversprechende Ansatz der Mediation überzeugte immer mehr Menschen – und erfüllte die Anhänger des Verfahrens mit „jugendlicher Begeisterung“ und Elan. Dementsprechend waren die nächsten beiden Jahrzehnte von phantasievollen praktischen Initiativen und ungeregeltem Wachstum geprägt, das durch die Motivation und Energie derer, die die neue Methode für sich entdeckt und zu schätzen gelernt hatten, angefeuert und getragen wurde.

Die drei „B-Mediationsverbände“ wurden gegründet: BM und BAFM im Jahr 1992, BMWA im Jahr 1996. Die Zahl der inner- wie außeruniversitären Ausbildungsangebote nahm zu und verschiedene Praxisprojekte sollten Mediation „unters Volk bringen“.  Besonders bemerkenswert erscheinen hier im Rückblick die ersten Pilotprojekte der gerichtlichen Mediation, in denen Richter/innen mit Pioniergeist und viel Eigeninitiative nach dem Motto „Just do it!“ auch ohne klare Rechtsgrundlage mediative Vermittlungsangebote an staatlichen Gerichten etablierten.

In vielen verschiedenen gesellschaftlichen Konfliktbereichen wurde mit Mediationsansätzen experimentiert. Doch trotz guter Konzepte und hohem Arbeitseinsatz stieg die Nachfrage nach Mediationsverfahren nicht so schnell wie erwartet bzw. gewünscht – was bei den Mediationspionieren die Ungeduld wachsen ließ.

VI. Normative Nachhilfe

Nun sollten gesetzliche Regelungen der Mediation Etablierungs-Starthilfe geben. Die europäische Mediations-Richtlinie erlegte den Mitgliedsstaaten auf, jedenfalls für grenzüberschreitende Streitigkeiten (zumindest) die Gewährleistung des Vertraulichkeitsschutzes, der Verjährungshemmung und der Vollstreckbarkeit von Mediationsvergleichen zu regeln.

Der Vorlauf der deutschen Mediationsgesetzgebung war von heftigen Kontroversen – v.a. zur gerichtsinternen Mediation und zu den Qualifikations-/Ausbildungsvorgaben für Mediatoren – geprägt. Die Beobachtung, dass „die deutsche Mediationsszene“ es nicht vermochte, konsensual einen allseitig interessengerechten Regelungsvorschlag vorzulegen, sondern dass das Mediationsgesetz letztlich erst durch den Vermittlungsausschuss seine aktuelle Form erhielt, ließ einige Akteure mit deutlichen Zweifeln ob der Kongruenz von Mediationsbotschaft und -haltung zurück.

Trotz seiner etwas holprigen Entstehungsgeschichte wurde das Inkrafttreten des Mediationsgesetzes am 21.7.2012 als historisches Ereignis gefeiert:

„Im Leben des Rechts gibt es, wie im Leben des Menschen, Tage, die fast alles verändern – Schicksalstage. Der 1.1.1900 war so ein Tag; da ist das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten. Oder der 23.5.1949, der Tag des Grundgesetzes. [...] Diesen Tagen und diesen Gesetzen hat man das Bedeutende angesehen, Aufmerksamkeit und Aufregung waren groß. Dem ‚Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung‘, das nun in Kraft tritt, sieht man diese Bedeutung nicht an.“

Die Mediation hatte nun quasi die „Volljährigkeit“ erreicht: Selbst in der Wahrnehmung von bislang eher mediationsskeptischen Jurist/innen war das alternative Verfahren dadurch geadelt worden, dass ihm ein Bundesgesetz gewidmet wurde, welches den Mediationsgedanken normativ unterlegte und entsprechende Verfahrensschnittstellen in verschiedenen Prozessordnungen verankerte.

Wichtige Protagonisten der Gesetzesgenese brachten entsprechend große Hoffnungen zum Ausdruck, dass die Mediation die Streitkultur und letztlich auch die Rechtskultur in Deutschland verändern könne:

„Unsere Gesellschaft ist bestimmt reif für eine konstruktive eigenverantwortliche Streitbeilegung, aber Veränderungen in der Streitkultur werden und können auch nicht von heute auf morgen stattfinden. Das Verfahren wird auf Dauer einfach schon deshalb angenommen werden, weil bei der Mediation die eigene Entscheidungsgestaltung fest verankerter Bestandteil ist, ausnahmslos und entgegen allen anderen Verfahren.“

„Das Gesetz wird dazu beitragen, dass Mediation in unserer Gesellschaft bekannter und zunehmend als eine ernst zu nehmende Alternative zum streitigen Gerichtsverfahren begriffen wird.“

V. Ernüchterung

Aber war mit der Volljährigkeit auch die „Geschäftsfähigkeit“ im Sinne einer breiten praktischen Nutzung von Mediation erreicht?

Die im Juli 2017 veröffentlichte Evaluation des Mediationsgesetzes kam hier zu einer wenig erfreulichen Antwort: „Die Zahl der durchgeführten Mediationen ist auf einem gleichbleibenden niedrigen Niveau. Die Mediationen konzentrieren sich dabei überwiegend auf einige wenige Mediatoren. [...] Die Mediationstätigkeit bietet nur geringe Verdienstmöglichkeiten.“

Auch wenn das methodische Herangehen des Evaluationsteams an die Erhebung der Nutzung und Wirksamkeit von Mediation kritisch zu betrachten ist und die Evaluationsergebnisse deshalb wohl nicht in jeder Hinsicht als repräsentativ zu betrachten sind, haben die nach wie vor zitierten Befunde des Evaluationsberichts jedenfalls negative Wirkungen auf die Fremd- und auch auf die Selbstwahrnehmung der Mediation in Deutschland, die bis heute anhalten.

Auch jenseits der Diskussion um nicht schnell genug wachsende Fallzahlen trugen und tragen weitere Aspekte und Entwicklungen zur Ernüchterung bei:

Nicht jede Mediation, die stattfindet, ist eine gute Mediation. Auch im Sektor der alternativen Streitbeilegung gibt es unbefriedigende Fallverläufe und schlicht unzulängliche Dienstleistungen. Machen Konfliktparteien einmal eine schlechte Erfahrung mit der Mediation, sind sie – anders als z.B. bei einem Friseurbesuch – wenig geneigt, in zukünftigen Konfliktfällen wieder Mediation zu nutzen. Dieses Phänomen der „verbrannten Erde“ führt dazu, dass immer mehr Mediator/innen zwar klar wegen ihrer methodischen Kompetenzen angefragt werden, aber den Auftrag erhalten „Machen Sie, was Sie für richtig halten – aber nennen Sie es bitte nicht Mediation!“ 

Zugleich führt unklare Etikettierung zu Verwirrung und ggf. auch Unzufriedenheit von Verfahrensnutzerinnen. Insofern trugen bestimmte Parolen, die eigentlich im Dienste der außergerichtlichen Streitbeilegung lanciert wurden, eher zur Verunklarung von Begriffen und Verfahrenscharakteristika bei (so insbes. der „Werbeslogan“ für die gerichtsinterne Mediation „Schlichten statt richten“ oder die Bezeichnung der Schlichtertätigkeit von Heiner Geißler im Konflikt um das Projekt Stuttgart 21 als Mediation).

Auch werden die Grundprinzipien der Mediation in einigen Einsatzfeldern des Verfahrens relativiert – oder führen, falsch verstanden, zu unguten Effekten. So stellt sich beispielsweise bei der Mediation von Konflikten am Arbeitsplatz nicht selten die Frage nach der Freiwilligkeit der Teilnahme; dies muss differenziert diskutiert werden.  Auch darf das Motto der Selbstverantwortung der Konfliktparteien nicht dazu führen, dass Führungsverantwortung in Organisationen oder politische Verantwortung in Planungsprozessen an Mediationssysteme „delegiert“ wird. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.10.2022 16:22
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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