Aktuell in der ZKM

Braucht die Ziviljustiz einen „Beipackzettel“? (Sundermeier / Zilz, ZKM 2021, 9)

Zivilgerichtsverfahren in Bau- und Architektensachen stehen bei den Parteien als teuer und zeitaufwendig in der Kritik. Darüber hinaus bringen die Verfahren jedoch noch weitere „Nebenwirkungen“ mit sich, die bei der Beantwortung der Grundsatzfrage „Instanzenzug oder außergerichtliche Streitverfahren?“ nur selten Beachtung finden. Diese ungewollten Begleiterscheinungen und Nebeneffekte wurden im Rahmen einer Praxisbefragung näher untersucht. Erste Ergebnisse sollen hier nun schlaglichtartig vorgestellt werden.

A. Ausgangslage

B. Empirische Untersuchung zu Nebenwirkungen von Bauprozessen

C. Generelle Wahrnehmung und Bewertung von Bauprozessen in der Praxis

I.      Einstellung zu zivilgerichtlichen Bauprozessen – zwei Perspektiven

II.     Generelle Nebenwirkungen der Gerichtsverfahren und ihre Wahrnehmung

D. Bauspezifische Ausprägung verfahrensbedingter Nebenwirkungen

I.      Nebenwirkungen durch Kosten- und Ressourcenaufwand

II.     Nebenwirkungen infolge emotionaler Belastungen

III.    Nebenwirkungen eines unbefriedigenden Prozessausgangs

E. Fazit
 

A. Ausgangslage

Wo gehobelt wird, da fallen Späne – und wo gebaut wird, da sind Konflikte an der Tagesordnung. Ursache ist keineswegs eine überbordende Streitlust der „Leute vom Bau“; vielmehr liegt eine besondere Konfliktträchtigkeit des Bauens in der Natur der Sache: Weil Bauwerke in ausgeprägter Arbeitsteiligkeit als technisch komplexe Unikate erstellt werden, sind Reibungspunkte und Streitfälle im täglichen Planungs- und Baugeschehen unvermeidlich. Die sach- und interessengerechte Bewältigung dieser Konflikte ist nicht allein ein notwendiges Übel, sondern – neben der Konfliktprävention – vielmehr ein wesentlicher Baustein für den wirtschaftlichen Erfolg aller an einem Bauvorhaben Beteiligten.

Wohl kein anderer Wirtschaftszweig beansprucht die staatliche Ziviljustiz deshalb so umfassend mit der Klärung von Streitigkeiten wie die Bau- und Immobilienwirtschaft. Im Jahr 2019 standen einem Bauvolumen von 431,1 Mrd. € insgesamt 37.101 Neueingänge von Zivilverfahren in Bau- und Architektensachen bei den AG und LG gegenüber. Vulgo: Wer am Bau 12 Mio. € umsetzt, wird sich – rein statistisch gesehen – mit seinen Partnern einmal vor Gericht wiedertreffen.

Die staatliche Zivilgerichtsbarkeit ließe sich anhand dieser Zahlen als Allheilmittel für Baukonflikte vermuten. Tatsächlich aber wird das Prozessieren in Bau- und Architektensachen von den Beteiligten zumeist als „bittere Pille“ empfunden, die es für die Durchsetzung streitiger Vertrags- und Rechtsansprüche zu schlucken gilt. Seit geraumer Zeit mehrt sich insoweit die Kritik an der organisatorischen Schwerfälligkeit gerichtlicher Verfahren, an hohen Kosten und einer langen Dauer der Streitfallbewältigung sowie an der aus Sicht vieler Beteiligter geringen Prognosesicherheit des Verfahrensausgangs. Die „Konfliktmedizin“ der staatlichen Ziviljustiz bringt in der Bau- und Immobilienbranche also offenbar manche Nebenwirkungen mit sich, die den „Behandlungserfolg“ schmälern oder die Streitparteien unerwartet (heftig) treffen.

B. Empirische Untersuchung zu Nebenwirkungen von Bauprozessen

Die Deutsche Gesellschaft für außergerichtliche Streitbeilegung in der Bau- und Immobilienwirtschaft (DGA-Bau) e.V. und das Fachgebiet Bauwirtschaft und Baubetrieb der Technischen Universität Berlin sind diesen Nebenwirkungen im Rahmen einer empirischen Stichprobe nachgegangen. Dabei war zunächst zu untersuchen, wie die Beteiligten von Gerichtsverfahren ihre Prozesserfahrungen bewerten. Weiterhin sollten Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Begleiterscheinungen bzw. Nebeneffekte von Zivilverfahren in Bau-/Architektensachen die Beteiligten wahrnehmen und inwieweit diese ggf. für die Bewertung maßgeblich sind.

Auf Basis von Vorstudien zum Stand der Forschung wurden zu diesem Zweck strukturierte Interviews mit zwölf Personen geführt, die als Vertreter direkt konfliktbetroffener Parteien (Auftraggeber, Planer, Baufirmen) in Prozesse involviert waren. Weiterhin wurden acht Personen befragt, die als Richter, Anwälte oder Sachverständige ebenfalls an Gerichtsverfahren beteiligt, in ihrer Funktion jedoch lediglich indirekt von den jeweiligen Streitfällen betroffen sind. Die Spanne der einschlägigen Berufserfahrung reichte in der gesamten Befragungsgruppe von 4 bis 40 Jahren, im Mittel konnten die befragten Personen auf 21,8 Erfahrungsjahre zurückblicken.

Diese Grundgesamtheit der Teilnehmenden erlaubt ganz ohne Zweifel keine für sich genommen repräsentativen Aussagen. Das primäre Ziel der Untersuchung lag deshalb darin, mittels einer empirischen Stichprobe zu überprüfen, ob und inwieweit bereits aus dem Stand der rechtstatsächlichen Forschung vorliegende Erkenntnisse grundsätzlich auch für den Bauprozess gelten können. Darüber hinaus galt es, erste empirische Aufschlüsse über die ggf. bauspezifischen Problemstellungen gerichtlicher Zivilverfahren zu erlangen.

C. Generelle Wahrnehmung und Bewertung von Bauprozessen in der Praxis

Unter dieser Zielsetzung wurden die Interviewteilnehmer zunächst zu ihren Erfahrungen mit gerichtlichen Bauprozessen sowie zu ihrer grundsätzlichen Bewertung der Ziviljustiz in Bau- und Architektensachen befragt. Außerdem wurden die Befragten gebeten, generelle Nebenwirkungen von Gerichtsverfahren auf die Parteien aus unmittelbarer eigener Erfahrung bzw. als Richter, Anwälte oder Sachverständige aus ihrer Wahrnehmung der Parteien heraus zu nennen und zu quantifizieren.

I. Einstellung zu zivilgerichtlichen Bauprozessen – zwei Perspektiven

Dass die Wahrnehmung von Bauprozessen ganz wesentlich von der Rolle der Beteiligten abhängt, zeigt sich bereits in der grundsätzlichen Einstellung zu Gerichtsverfahren, mit der die Befragten ihre individuellen Erfahrungen zusammenfassen sollten: Während die interviewten Richter, Anwälte und Sachverständige mit großer Mehrheit zu einer positiven Bewertung gelangen, fällt das Urteil der unmittelbar konfliktbetroffenen Studienteilnehmer mit ähnlich klarem Votum negativ aus – für knapp drei Viertel dominieren die negativen Erfahrungen, ein weiteres Viertel blickt auf gemischte Erfahrungen zurück; zu einer durchweg positiven Bewertung kommt hingegen kein Interviewteilnehmer, der bereits selbst als Streitpartei in Bauprozesse involviert war (vgl. Abbildung 1).


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Abb. 1: Einstellung zu Gerichtsverfahren in Bau- und Architektensachen

Die kritische Haltung der als unmittelbar Konflikt- bzw. Verfahrensbetroffene befragten Studienteilnehmer deckt sich in ihrer Tendenz mit den Ergebnissen anderer einschlägiger Untersuchungen. Überraschend war hingegen, wie deutlich die Bewertungen zwischen den Gruppen der direkt und der indirekt Betroffenen divergieren. Dies erscheint insbesondere deshalb als bemerkenswert, weil beide Gruppen in Bauprozessen keine per se konträren Interessen verfolgen. Das Meinungsbild lässt insoweit vermuten, dass Richter, Anwälte und Sachverständige zumindest einige wesentliche Aspekte von Gerichtsverfahren in Bau-/Architektensachen anders gewichten und bewerten als die Streitparteien selbst.

II. Generelle Nebenwirkungen der Gerichtsverfahren und ihre Wahrnehmung

Große Übereinstimmung herrscht bei allen Befragten zunächst in der Feststellung, dass die Wahrnehmung von gerichtlichen Bauprozessen über den zentralen Aspekt der Streitentscheidung und der im besten Fall damit einhergehenden Konfliktbefriedung hinaus von einer Vielzahl prozessualer oder prozessverbundener Aspekte bestimmt wird. Hierzu sprachen die Befragten eine Vielzahl von Einzelthemen an, die sich bei der Auswertung nahezu ausnahmslos den in Abbildung 2 dargestellten sechs Kategorien von Nebenwirkungen zuordnen ließen.

Für die Beurteilung gerichtlicher Streitverfahren in Bau-/Architektensachen ist demnach – neben dem Prozessausgang – insbesondere der Kosten- bzw. Ressourcenaufwand zur Prozessführung von Bedeutung. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen darüber hinaus auch emotionale Belastungen der Konflikt- bzw. Verfahrensbeteiligten, aber auch die Frage, ob und inwieweit gerichtliche Bauprozesse einen Lerneffekt bewirken und den Parteien somit einen über das Prozessergebnis hinausgehenden „Mehrwert“ bieten können. Als mögliche unerwünschte Nebenwirkung gesehen wird schließlich auch die Gefahr einer negativen Öffentlichkeitswirkung und damit einhergehender Reputationsverluste.

Für die unmittelbar konfliktbeteiligten Befragten war dieser Aspekt gleichwohl ohne jeden praktischen Belang, während die als befragten Richter, Anwälte und Sachverständige als Gruppe der indirekt Konfliktbeteiligten hier mit Blick auf die Prozessparteien immerhin eine schwache Bedeutung vermuteten. Auch an anderer Stelle zeigen sich zwischen den Erfahrungen der direkt konfliktbetroffenen Studienteilnehmer – d.h. der Auftraggeber, Planer und Bauunternehmen – und den Einschätzungen der indirekt Konfliktbeteiligten klare Divergenzen (vgl. Abbildung 2). Beide Gruppen kamen in der Befragung deshalb zu einer unterschiedlichen Rangigkeit und damit faktisch zu einer unterschiedlichen Gewichtung der einzelnen Kategorien bauprozessspezifischer Nebenwirkungen.

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Abb. 2: Begleiterscheinungen von Bauprozessen (Umfrageergebnis)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.02.2021 14:28
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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