Aktuell in der ZKM

Außergerichtliche Beschwerdemechanismen entlang globaler Lieferketten

von Ulla Gläßer, Robert Pfeiffer, Dominik Schmitz, Helene Bond, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/O.

Am 20.9.2021 veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) den Abschlussbericht zu einem Forschungsprojekt, in dem Gestaltungsmöglichkeiten nicht-staatlicher außergerichtlicher Beschwerdemechanismen für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen im Verantwortungsbereich von transnational agierenden Unternehmen entlang globaler Lieferketten untersucht worden waren. Der Forschungsbericht richtet sich primär an Akteure, die sich – in Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften, verfahrensanbietenden Institutionen oder NGOs – mit der Einrichtung oder Verbesserung derartiger Beschwerdemechanismen beschäftigen. Menschenrechtsorganisationen soll der Bericht zudem die (potentielle) Leistungsfähigkeit dieser Mechanismen nahebringen, so dass sie die Etablierung derartiger Mechanismen kritisch-konstruktiv begleiten und mitgestalten können. Wissenschaftlerinnen finden in dem Bericht vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Forschung. Nicht zuletzt enthält der Bericht Anregungen für die Regulierung von Beschwerdemechanismen und adressiert damit auch den Gesetzgeber und andere (rechts-)politische Akteure. Der vorliegende Beitrag vermittelt einen Überblick über Ausgangslage, Zielsetzung und methodischen Ansatz sowie zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes.

I. Ausgangslage
Gefährliche Arbeitsbedingungen, massive Überstundenlast, zu geringe Bezahlung, Repressionen gegen Gewerkschaften, sexuelle Belästigung, Kinderarbeit und gravierende Umweltverschmutzung sind immer noch an vielen Standorten entlang von Lieferketten deutscher bzw. europäischer Unternehmen alltägliche Realität.

Die bereits im Jahr 2011 vom UN Menschenrechtsrat einstimmig gebilligten UN Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP) betonen neben der staatlichen Verpflichtung zum Schutz und der unternehmerischen Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte auch die Notwendigkeit effektiver Abhilfe in Fällen von Menschenrechtsverletzungen: Die UNGP 25-31 fordern für Opfer von Menschenrechtsverletzungen den Zugang zu effektiven staatlichen wie nicht-staatlichen, gerichtlichen wie außergerichtlichen Beschwerdemechanismen, die sich gegenseitig komplementär ergänzen sollen.

Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem im Juni 2021 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten (Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG) den Regulierungsansatz der UNGP aufgegriffen. Für bestimmte Unternehmen sieht § 8 Abs. 1 LkSG eine Verpflichtung vor, dass „ein angemessenes unternehmensinternes Beschwerdeverfahren“ einzurichten ist; alternativ können Unternehmen sich auch an einem entsprechenden externen Beschwerdeverfahren beteiligen, sofern letzteres die nachfolgenden Kriterien der Abs. 2–4 des § 8 LkSG erfüllt.

Dieses von den UNGP eingeforderte Gesamtsystem effektiver Abhilfe ist bislang noch lückenhaft. Mit Blick auf gerichtlichen Rechtsschutz stehen die Betroffenen teilweise vor erheblichen Zugangshürden. Auch können Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf dem Klageweg – wenn überhaupt – zumeist nur eine retrospektive Entschädigung erlangen. In außergerichtlichen Beschwerdeverfahren können neben kompensatorischer Abhilfe dagegen auch zukunftsgerichtete, präventive Maßnahmen erwirkt werden. Zudem dienen gut funktionierende Beschwerdemechanismen als „Frühwarnsysteme“ zur Nachjustierung der von den Unternehmen zu leistenden Risikoanalyse. So können außergerichtliche Beschwerdemechanismen die staatlich-gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten ergänzen und bieten darüber hinaus einen eigenständigen Mehrwert. Allerdings wird dieses Potential der außergerichtlichen Beschwerdemechanismen derzeit noch nicht ausgeschöpft.

II. Zielsetzung und Ansatz des Forschungsprojektes
Im Dezember 2019 erteilte das BMJV deshalb einem Forschungsteam der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/O. den Auftrag, praxisorientierte Leitlinien für die Gestaltung außergerichtlicher Beschwerdemechanismen für Opfer von Menschenrechtsverletzungen entlang globaler Lieferketten zu entwickeln. Dabei sollte insbesondere das Anwendungspotential von Verfahren alternativer Streitbeilegung (Alternative Dispute Resolution, ADR) im Feld Wirtschaft und Menschenrechte erforscht und besonderes Augenmerk auf den möglichen Erkenntnistransfer aus der Praxis der Verbraucherschlichtung in Deutschland gelegt werden.

Ausgehend von einer Sichtung der einschlägigen Literatur und einer Analyse ausgewählter bestehender Beschwerdemechanismen erarbeitete das Forschungsteam zunächst ein differenziertes System von Gestaltungskategorien für Beschwerdemechanismen. Unter Bezugnahme auf die Effektivitätskriterien des UNGP 31, nach denen außergerichtliche Beschwerdemechanismen legitim, zugänglich, berechenbar, ausgewogen, transparent, rechte-kompatibel, lernend und auf Austausch und Dialog ausgerichtet sein sollen, und deren Konkretisierungen durch das Accountability and Remedy Project III (ARP III) des Office of the High Commissioner of Human Rights (OHCHR) wurden zu diesen Kategorien anschließend gute Ansätze aus der Praxis der untersuchten Mechanismen ermittelt.

Über halbstrukturierte, leitfadengestützte Interviews mit Expertinnen aus Unternehmen, Gewerkschaften, NGOs und verfahrensanbietenden Institutionen sowie eine ergänzende Online-Umfrage wurden unterschiedliche, auch kritische Perspektiven auf Gestaltungsaspekte, Good Practices und Herausforderungen bei der Einrichtung von Beschwerdemechanismen erhoben und offene Fragen zu einzelnen Themenbereichen geklärt.

Der gezielte Erkenntnistransfer aus der etablierten Praxis deutscher Verbraucherschlichtungsstellen erbrachte zusätzliche wertvolle Anregungen insbesondere zu Möglichkeiten der unternehmensübergreifenden Trägerschaft, Finanzierung und Qualitätssicherung von ADR-Angeboten.

Auf dieser Grundlage entwickelte das Forschungsteam das Integrative Grievance System (IGS) als prototypisches Modell, in dem Empfehlungen für die Gestaltung unternehmensübergreifender, außergerichtlicher Beschwerdemechanismen im Feld Wirtschaft und Menschenrechte gebündelt werden. Das IGS verdeutlicht die notwendige Verzahnung eines Beschwerdemechanismus mit anderen Wirkmechanismen (insb. mit Social Auditing, Social Dialogue und Capacity Building). Eine Kombination der Verfahren Mediation, Schlichtung und Schiedsgerichtsbarkeit soll die effektive Bearbeitung von Beschwerden unter Berücksichtigung der gravierenden strukturellen Machtungleichgewichte zwischen den Konfliktparteien ermöglichen. Über verschiedene Rückkopplungsmechanismen und differenzierte Berichtspflichten wird das IGS zum lernenden System.

III. Ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojektes

1. Vorteile unternehmensübergreifend institutionalisierter Beschwerdemechanismen

Ein erstes, für die weiteren Arbeitsschritte des Forschungsteams grundlegendes Ergebnis war, dass unternehmensübergreifende Beschwerdemechanismen gegenüber unternehmensinternen Mechanismen eine Reihe wesentlicher Vorteile aufweisen; dazu gehören u.a.

  • ein höheres Maß an Unabhängigkeit des Beschwerdemechanismus vom Einfluss einzelner Unternehmen,
  • erhebliche Effizienzgewinne im Rahmen der Institutionalisierung und Implementierung des Mechanismus durch die Bündelung von Ressourcen mehrerer (Besteller-)Unternehmen,
  • die gesteigerte Wirksamkeit der Beschwerdeverfahren durch gemeinsame Qualitätssicherung sowie eine gemeinsam finanzierte Aus- und Fortbildung und schnellere Professionalisierung des verfahrensbegleitenden und -leitenden Personals und
  • die effektivere Durchsetzung von Abhilfe- und Präventionsmaßnahmen gegenüber Zulieferbetrieben durch (kollektive) Anreizsysteme zusammenwirkender Bestellerunternehmen.

Daher sollte der Schwerpunkt zukünftiger Entwicklungen auf der Etablierung unternehmensübergreifend institutionalisierter Beschwerdemechanismen liegen. Diese können durch unternehmensinterne Mechanismen sinnvoll ergänzt, aber nicht ersetzt werden.

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.01.2022 15:20
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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