Aktuell in der ZKM

Wesenszüge des digitalen Streits – Online Verhandeln, Schlichten und Richten

Von Dr. Klaus Harnack, Akademischer Rat an der Universität Münster, Fachbereich Psychologie

Kommunikation ist die zentrale Stellschraube des Konfliktmanagements – Diese Weisheit gilt auch in Zeiten von social distancing. Nun stellt sich allerdings die Frage, wie sich Kommunikation durch den verstärkten Einsatz von digitalen Medien verändert. Nachdem im ersten Teil (ZKM 1/2021, 14 ff.) Über die Ferne: Sprechen, Verhandeln und Entscheiden die allgemeine Wahrnehmung und erste Hinweise auf ein good practice thematisiert wurden, widmet sich der zweite Teil speziell den Auswirkungen auf das direkte Gespräch mit Klienten, sei es im Gericht, im Anwaltswesen, oder in der Mediation.

Einleitung

Streitschlichtungen, Verhandlungen und Mediationen basieren auf dem Fundament der zwischenmenschlichen Interaktion, und diese lässt sich in Onlineverfahren nicht ausreichend realisieren – zahlreiche menschliche Komponenten gehen dabei verloren.

So der einhellige Tenor vor etwas mehr als einem Jahr, vor einer intensiven digitalen Lernphase. Nun im zweiten Jahr der Pandemie attestiert man sich gegenseitig, dass die Durchführung von Onlineverfahren schon ginge, und gelegentlich kann man sogar vernehmen, dass es ganz gut ginge. Auch wenn sich ein eindeutiges Stimmungsbild über Onlineverfahren noch nicht abgezeichnet hat, herrscht über den Verlust der menschlichen Komponenten  große Einigkeit. Doch was sind diese menschlichen Komponenten und wie manifestieren sie sich? Im Folgenden begeben wir uns auf Spurensuche, suchen nach Unterschieden zwischen dem Verhandeln, Schlichten und Richten im digitalen und im realen Raum und versuchen die Frage zu beantworten, inwieweit die angesprochenen menschlichen Komponenten im digitalen Raum noch vorhanden sind, sich transformiert haben oder ob sie gänzlich verschwunden sind.

Auflösung des Raums

Beginnen wir die Spurensuche mit dem Offensichtlichen. Verschwunden ist der gemeinsame physische Raum, sei es im Gericht, der Kanzlei oder in der Mediationswerkstatt. Statt dass sich die betroffenen Personen an einem gemeinsamen Ort versammeln, sitzt nun jede Person einzeln vor dem Rechner und erblickt die Mitstreiter als gleichgeschaltete Kachelporträts auf dem Monitor. Diese Änderung bedeutet nicht nur eine Verschiebung in ein neues Medium und eine veränderte Wahrnehmung, sondern sie impliziert auch eine Veränderung im Denken der beteiligten Personen. Dies lässt sich mit dem Modell des Grounded Cognition  erklären, welches postuliert, dass sich unser Denken eben nicht nur mit der Informationsverarbeitung des Gehirns erklären lässt, sondern dass Kognition als Interaktion zwischen Gehirn, Körper und Umwelt verstanden werden muss – wir denken um zu handeln, und Denken findet immer in einer Umwelt statt.  Kognitive Elemente wie Wahrnehmung, Gedächtnis und Entscheidung können nur im Hinblick auf ihren Beitrag zu situationsangemessenem Verhalten verstanden werden, und so wird der Raum ein zentraler Bestandteil unseres Denkens.

Ein wahrer Klassiker unter den kognitionspsychologischen Experimenten illustriert den Verlust des Raumes sehr anschaulich:  Probanden lernten in zwei unterschiedlichen Umwelten eine Liste mit Wörtern. Die einen unter Wasser, die anderen an Land. Einen Tag später wurden die Teilnehmer aufgefordert, sich an die gelernten Wörter zu erinnern, entweder an Land oder unter Wasser. Das Ergebnis: Die Probanden konnten sich in jener Umwelt an die meisten Wörter erinnern, in der sie sich die Wörter eingeprägt hatten. War die Umwelt des Lernens und die des Erinnerns unterschiedlich, war die Leistung gemindert. Dieses Phänomen ist fast fünfzig Jahre nach dem ursprünglichen Experiment gut untersucht, und man weiß, dass die Augen dabei eine wichtige Rolle spielen. Während wir denken, fixieren unsere Augen kontinuierlich unsere Umwelt und produzieren eine Art Koordinatensystem, das zusammen mit den eigentlichen Informationen abgespeichert wird.  – Der umgebende Raum wird so zum Teil unseres Gedächtnisses (Prinzip der Enkodierungsspezifität) und dieser Raum geht im Digitalem verloren.

Der fehlende Gerichtssaal

Übertragen wir nun diese Erkenntnisse auf eine Richterin mittleren Alters und ihren gewohnten Gerichtssaal. Ihr Gerichtssaal hat, üblicherweise eine feststehende Bestuhlung und eine fixe räumliche Anordnung. Diese räumliche Konfiguration ist im Laufe der Zeit zum festen Teil ihrer richterlichen Wahrnehmung geworden und es haben sich basierend auf dieser Konfiguration Routinen gebildet, die Teil ihres richterlichen Handelns sind. Fällt nun die gewohnte Umwelt weg, fällt auch ein Teil ihres richterlichen „Gedächtnisses“ weg, und ihre Wahrnehmung und Routinen sind verzerrt. Routinen sind allerdings gerade bei komplexen Aufgaben besonders förderlich. Denken Sie an Autofahren – Spurhalten, Schalten und Blinken passieren automatisch und geben somit Ressourcen frei, die benötigt werden, um sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Analog fehlen der Richterin, ohne ihren „Raum“ auch Teile ihrer Routinen.

Vom Symbol zur Funktion

Jenseits der Tatsache, dass der Gerichtssaal als Teil des richterlichen Denkens angesehen werden kann, geht von der räumlichen Anordnung im Saal eine direkte Wirkung aus. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass räumliche Aspekte sich auf unsere Wahrnehmung auswirken.  Beispielsweise geht mit der exponierten Stellung der Richterbank die Wahrnehmung von Autorität einher. In der Onlineverhandlung fehlt die räumliche Trennung der Richterbank zwischen dem Richter und den anderen Prozessbeteiligten, die Schutz und die richterliche Unabhängigkeit signalisiert. In Summe wird deutlich, dass der Raum und die räumliche Konfiguration in Verfahren nicht nur eine symbolische Funktion haben, sondern funktionelle Aspekte bedienen, die nicht zum Tragen kommen können, wenn der Richter oder die Richterin nur eine weitere Kachel auf dem Monitor ist.

Verlorene Kanäle

Hinzu kommt, dass die bildliche Darstellung dieser Kacheln oft zusätzlich unter suboptimalen Licht-, Haltungs- und Blickverhältnissen leidet. Zu diesen möglichen Mängeln addieren sich weitere Störungen auf, die nicht so augenfällig sind. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Uni Magdeburg konnte beispielsweise zeigen, dass weiblichen Stimmen in Online-Konferenzen im Vergleich zu männlichen Stimmen wesentliche emotionale Komponenten fehlten, die für den charismatischen Ausdruck relevant sind.  Dies sind einige Beispiele für Einschränkungen und Verzerrungen der statischen Wahrnehmung. Darüber hinaus sind für die Kommunikation interaktive Prozesse wie der gegenseitige Blickkontakt mindestens genauso bedeutsam. Aufgrund der mannigfaltigen und breiten Studienlage  muss ich es hier jedoch bei den kurzen Hinweisen belassen, das Augenkontakt prosoziales Verhalten auslöst,  gehaltener Augenkontakt mit erhöhtem Selbstwert einhergeht,  dass Frauen mehr vom direkten Blickkontakt profitieren als Männer  und Augenkontakt eine zentral Variable für die schnelle Einschätzung von Persönlichkeitseigenschaften darstellt. In Summe, ein im digitalen Umfeld brachliegender Kommunikationskanal, der in seiner Wichtigkeit nicht unterschätzt werden darf. (...)
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 27.07.2021 08:43
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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