Aktuell in der ZKM

10 Jahre Modria: Konfliktmanagementsysteme und Online-Mediation auf dem Weg zur Digitalisierung der Justiz – Teil 1

von Prof. Dr. Heribert M. Anzinger, Universität Ulm

Internetgestützte private Konfliktmanagementsysteme (KMS) und Online Dispute Resolution (ODR)-Angebote sind Mitte der 1990er Jahre entwickelt und auf den Internetplattformen des eCommerce und der Sharing Economy mit eBay und PayPal groß geworden. Modria steht seit seiner Ausgründung in 2011 stellvertretend für eine Generation von ODR-Plattformanbietern, die Einfluss auf die Digitalisierung der Justiz und der außergerichtlichen Streitvermeidung und Streitbeilegung nehmen. Projekte zur Digitalisierung der Justiz, zur Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens und erste Online-Gerichte setzen vielerorts auf Techniken der ODR auf, jüngst beschleunigt durch die Zwänge der Corona-Pandemie. Der zweiteilige Beitrag widmet sich im ersten Teil dem Stand der Technik sowie der Einordnung von ODR zwischen Online-Mediation und Online-Streitbeilegung. Im zweiten Teil geht er Entwicklungen im Ausland nach und schließt mit einer Bewertung der Chancen, Risiken und Hürden.

A. Einleitung

B. Online Dispute Resolution: Taxonomie, Technik und Rezeption

I.      ODR und Online-Gerichte im engen und im weiten  Sinne

II.     Kommunikation und Konfliktverwaltung

1.     Elektronischer Zugang und Fallmanagement

2.     Videoverhandlung und elektronische Protokollierung

3.     Formularbasierte Verfahren und digitale Sachverhaltsermittlung

III.    Automatisierte Verhandlungen, Mediations- und Richterautomaten

C. Matterhorn, Modria & Co

I.      Prozessstruktur

II.     Bausteine in vier Stationen

1.     Automatisierte Konflikterfassung und Analyse

2.     Technologie-unterstützte Verhandlungen

3.     Online-Mediation

4.     Ergebnissicherung und -bewertung

III.    Dokumentations- und Kommunikationsumgebung

IV. Zwischenfazit


A. Einleitung

Gerichtsverfahren finden in Deutschland immer noch überwiegend analog, auf Papier statt, Verhandlungen im Grundsatz in Präsenz, in einem Gerichtssaal, am Sitz des zuständigen Gerichts. Die Beteiligten reisen, um sich zu versammeln und öffentlich zu verhandeln, selbst bei kleinsten Streitwerten. Die Parteien, nicht immer anwaltlich beraten und vertreten, tragen vor, was sie für richtig und wichtig halten, häufig, besonders bei kleinen Streitwerten, ohne Rücksicht auf den Verfahrensbeitrag des Gesagten und Geschriebenen. Einen Schwerpunkt der richterlichen Tätigkeit bilden die Identifikation des Streitgegenstandes, die Strukturierung des Streitstoffes, die Trennung von Streitigem und Unstreitigem. Häufig kommt es danach gar nicht zur anspruchsvollen juristischen Tätigkeit, die eine Befähigung zum Richteramt voraussetzt, weil die Parteien im Gericht erstmals strukturiert miteinander sprechen und einen Weg zur Beilegung des Streits erkennen. Umgekehrt wagen sich Parteien, gerade bei kleinen Streitwerten, oft nicht auf die „Hohe See“ des gerichtlichen Rechtsschutzes oder finden gar nicht erst den Weg dorthin. Zu mühsam, zu teuer, zu unbekannt erscheint der Rechtsweg.

Dieses analoge System befindet sich im Umbruch, zwar mit langen Übergangsfristen, aber auch zunehmendem Druck von außen. Spätestens ab 1.1.2022 bildet der elektronische Kommunikationsweg für die Anwaltschaft und die Behörden den einzigen Zugangsweg zu den Gerichten. Spätestens ab 1.1.2026 dürfen bei den Gerichten neu angelegte Akten nur noch elektronisch geführt werden. Und bereits seit 2002 besteht nach § 128a ZPO die Möglichkeit, Parteien, Bevollmächtigte, Zeugen und Sachverständige durch Video- und Tonübertragung virtuell in den Gerichtssaal zu holen. Beschleunigt wird der Umbruch durch einen Wandel auf dem Rechtsdienstleistungsmarkt. Legal Tech-Anbieter wenden sich mit ihren Angeboten an die im Umgang mit den Internetplattformen des eCommerce und der Sharing Economy vertrauten Klienten. Wer sein Bahn- oder Flugticket online bucht, ist die formularmäßig strukturierte Abfrage von Daten und die Kommunikation mit Internetavataren gewohnt und findet in diesen Anbietern auf gewohnten Kanälen Möglichkeiten, auch seine Fahr- oder Fluggastrechte wahrzunehmen. Ganz aktuell tritt ein weiterer Treiber hinzu. Die Corona-Pandemie zwingt Gerichte in die virtuelle Welt, bricht damit Vorbehalte auf und erlaubt die offene Diskussion über „Online Courts“.

Diese in Deutschland noch junge Diskussion verbindet sich mit der weniger neuen technischen Entwicklung und der Expansion von Online Dispute Resolution (ODR)-Plattform-Anbietern. Einer der meistzitierten Vertreter der Branche, Modria (Modular Online Dispute Resolution Implementation Assistance), vollendet dieses Jahr sein zehnjähriges Markenjubiläum, teilt sein Geburtsjahr damit mit den umgesetzten Entwürfen der europäischen ADR-RL und ODR-VO und kann mittlerweile auf eine große Gruppe an Marktbegleitern mit unterschiedlichen Akzenten blicken. Seine Wurzeln reichen zurück in einen der größten Online-Marktplätze und in einen verbreiteten Online-Bezahldienst und damit in genau die Bereiche der Digitalen Märkte und der Sharing Economy die heute immer breitere Teile der Gesellschaft erfassen. Heute ist die Marke integriert in einen auf den öffentlichen Sektor und die staatliche Justiz spezialisierten Softwareanbieter. Das deutet an, wohin die Entwicklung gehen soll.

Mittlerweile ist erkannt, dass sich staatliche Streitbeilegungsangebote und auch die deutsche Zivilgerichtsbarkeit auf dem Streitbeilegungsmarkt bewähren müssen. Das gilt nicht nur im Unternehmensrecht, sondern auch im Verbraucherrecht. Im einen Fall eröffnen Rechts- und Gerichtsstandswahl sowie Schiedsklauseln Alternativen zum deutschen Recht und zu deutschen Gerichten, im anderen Fall sind es Streitbeilegungs- und Streitvermeidungslösungen, aber auch rationale Apathie, die in einer digitalen Streitbeilegungskultur die Nachfrage nach den staatlichen Rechtsschutzangeboten verringern, mit der damit verbundenen Schwächung der Rechtsgeltung. Das heißt aber nicht, dass die staatliche Justiz in Deutschland absehbar kein wettbewerbsfähiges Online-Angebot für Zivilstreitigkeiten machen könnte. Zum einen bestehen in Deutschland wahrgenommene Vorbilder für die Integration privater ODR-Plattformangebote in staatliche Zivilverfahren im Ausland. Zum anderen gibt es sowohl in den Bundesländern als auch auf europäischer Ebene Impulse, die Überlegungen zu Online-Gerichten und beschleunigten Online-Verfahren enthalten. Darunter sticht mit konkreten Vorschlägen das im Sommer 2020 vorgelegte Thesenpapier der Justiz-Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hervor.

Das Drängen der Anbieter auf den Markt der Mediation und der staatlichen Streitbeilegung sowie der Bedarf zur Digitalisierung der Justiz rechtfertigen die Beschäftigung mit dem Wesen und Potentialen von ODR – Plattformen (B.) und den Grundelementen internetgestützter Konfliktmanagementplattformen (C.) in diesem Beitrag. Im zweiten Teil des Beitrags soll Vorausentwicklungen im In- und Ausland (D.) sowie den Chancen, Risiken und den Hürden ihrer Implementierung anknüpfend an erste Überlegungen im Schrifttum nachgegangen werden (E.), um mit Perspektiven zu schließen (F.).

B. Online Dispute Resolution: Taxonomie, Technik und Rezeption

Die englische Terminologie, Online Dispute Resolution (ODR) oder offener, Online Case Resolution (OCR), weckt unterschiedliche Assoziationen. In einer Pandemie und damit verbundener Erschwernisse für Präsenzverhandlungen drängt sich die Vorstellung virtueller Gerichte in den Vordergrund. Mit dem zur Entwicklungsgeschichte von ODR oft erwähnten „The VirtualCourtHouse.com“ findet sich ein früher Plattformanbieter, der diese Vorstellung in seiner Markenbezeichnung bedient. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Angebot, wie auch bei der von der Europäischen Kommission auf der Grundlage der ODR-VO betriebenen Plattform aber zuerst nur um eine Vermittlungs- und Kommunikationsplattform für menschengeführte Online-Mediation, wie überhaupt ODR zuerst mit Mediationstechniken der Streitvermeidung begann und später auch die alternativen Formen der Streitbeilegung einbezog. Das Spektrum der Begriffsverwendung und der Möglichkeiten reicht wesentlich weiter und gebietet eine Vorklärung.

A. Einleitung

Gerichtsverfahren finden in Deutschland immer noch überwiegend analog, auf Papier statt, Verhandlungen im Grundsatz in Präsenz, in einem Gerichtssaal, am Sitz des zuständigen Gerichts. Die Beteiligten reisen, um sich zu versammeln und öffentlich zu verhandeln, selbst bei kleinsten Streitwerten. Die Parteien, nicht immer anwaltlich beraten und vertreten, tragen vor, was sie für richtig und wichtig halten, häufig, besonders bei kleinen Streitwerten, ohne Rücksicht auf den Verfahrensbeitrag des Gesagten und Geschriebenen. Einen Schwerpunkt der richterlichen Tätigkeit bilden die Identifikation des Streitgegenstandes, die Strukturierung des Streitstoffes, die Trennung von Streitigem und Unstreitigem. Häufig kommt es danach gar nicht zur anspruchsvollen juristischen Tätigkeit, die eine Befähigung zum Richteramt voraussetzt, weil die Parteien im Gericht erstmals strukturiert miteinander sprechen und einen Weg zur Beilegung des Streits erkennen. Umgekehrt wagen sich Parteien, gerade bei kleinen Streitwerten, oft nicht auf die „Hohe See“ des gerichtlichen Rechtsschutzes oder finden gar nicht erst den Weg dorthin. Zu mühsam, zu teuer, zu unbekannt erscheint der Rechtsweg.

Dieses analoge System befindet sich im Umbruch, zwar mit langen Übergangsfristen, aber auch zunehmendem Druck von außen. Spätestens ab 1.1.2022 bildet der elektronische Kommunikationsweg für die Anwaltschaft und die Behörden den einzigen Zugangsweg zu den Gerichten. Spätestens ab 1.1.2026 dürfen bei den Gerichten neu angelegte Akten nur noch elektronisch geführt werden. Und bereits seit 2002 besteht nach § 128a ZPO die Möglichkeit, Parteien, Bevollmächtigte, Zeugen und Sachverständige durch Video- und Tonübertragung virtuell in den Gerichtssaal zu holen. Beschleunigt wird der Umbruch durch einen Wandel auf dem Rechtsdienstleistungsmarkt. Legal Tech-Anbieter wenden sich mit ihren Angeboten an die im Umgang mit den Internetplattformen des eCommerce und der Sharing Economy vertrauten Klienten. Wer sein Bahn- oder Flugticket online bucht, ist die formularmäßig strukturierte Abfrage von Daten und die Kommunikation mit Internetavataren gewohnt und findet in diesen Anbietern auf gewohnten Kanälen Möglichkeiten, auch seine Fahr- oder Fluggastrechte wahrzunehmen. Ganz aktuell tritt ein weiterer Treiber hinzu. Die Corona-Pandemie zwingt Gerichte in die virtuelle Welt, bricht damit Vorbehalte auf und erlaubt die offene Diskussion über „Online Courts“.

Diese in Deutschland noch junge Diskussion verbindet sich mit der weniger neuen technischen Entwicklung und der Expansion von Online Dispute Resolution (ODR)-Plattform-Anbietern. Einer der meistzitierten Vertreter der Branche, Modria (Modular Online Dispute Resolution Implementation Assistance), vollendet dieses Jahr sein zehnjähriges Markenjubiläum, teilt sein Geburtsjahr damit mit den umgesetzten Entwürfen der europäischen ADR-RL und ODR-VO und kann mittlerweile auf eine große Gruppe an Marktbegleitern mit unterschiedlichen Akzenten blicken. Seine Wurzeln reichen zurück in einen der größten Online-Marktplätze und in einen verbreiteten Online-Bezahldienst und damit in genau die Bereiche der Digitalen Märkte und der Sharing Economy die heute immer breitere Teile der Gesellschaft erfassen. Heute ist die Marke integriert in einen auf den öffentlichen Sektor und die staatliche Justiz spezialisierten Softwareanbieter. Das deutet an, wohin die Entwicklung gehen soll.

Mittlerweile ist erkannt, dass sich staatliche Streitbeilegungsangebote und auch die deutsche Zivilgerichtsbarkeit auf dem Streitbeilegungsmarkt bewähren müssen. Das gilt nicht nur im Unternehmensrecht, sondern auch im Verbraucherrecht. Im einen Fall eröffnen Rechts- und Gerichtsstandswahl sowie Schiedsklauseln Alternativen zum deutschen Recht und zu deutschen Gerichten, im anderen Fall sind es Streitbeilegungs- und Streitvermeidungslösungen, aber auch rationale Apathie, die in einer digitalen Streitbeilegungskultur die Nachfrage nach den staatlichen Rechtsschutzangeboten verringern, mit der damit verbundenen Schwächung der Rechtsgeltung. Das heißt aber nicht, dass die staatliche Justiz in Deutschland absehbar kein wettbewerbsfähiges Online-Angebot für Zivilstreitigkeiten machen könnte. Zum einen bestehen in Deutschland wahrgenommene Vorbilder für die Integration privater ODR-Plattformangebote in staatliche Zivilverfahren im Ausland. Zum anderen gibt es sowohl in den Bundesländern als auch auf europäischer Ebene Impulse, die Überlegungen zu Online-Gerichten und beschleunigten Online-Verfahren enthalten. Darunter sticht mit konkreten Vorschlägen das im Sommer 2020 vorgelegte Thesenpapier der Justiz-Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hervor.

Das Drängen der Anbieter auf den Markt der Mediation und der staatlichen Streitbeilegung sowie der Bedarf zur Digitalisierung der Justiz rechtfertigen die Beschäftigung mit dem Wesen und Potentialen von ODR – Plattformen (B.) und den Grundelementen internetgestützter Konfliktmanagementplattformen (C.) in diesem Beitrag. Im zweiten Teil des Beitrags soll Vorausentwicklungen im In- und Ausland (D.) sowie den Chancen, Risiken und den Hürden ihrer Implementierung anknüpfend an erste Überlegungen im Schrifttum nachgegangen werden (E.), um mit Perspektiven zu schließen (F.).

B. Online Dispute Resolution: Taxonomie, Technik und Rezeption

Die englische Terminologie, Online Dispute Resolution (ODR) oder offener, Online Case Resolution (OCR), weckt unterschiedliche Assoziationen. In einer Pandemie und damit verbundener Erschwernisse für Präsenzverhandlungen drängt sich die Vorstellung virtueller Gerichte in den Vordergrund. Mit dem zur Entwicklungsgeschichte von ODR oft erwähnten „The VirtualCourtHouse.com“ findet sich ein früher Plattformanbieter, der diese Vorstellung in seiner Markenbezeichnung bedient. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Angebot, wie auch bei der von der Europäischen Kommission auf der Grundlage der ODR-VO betriebenen Plattform aber zuerst nur um eine Vermittlungs- und Kommunikationsplattform für menschengeführte Online-Mediation, wie überhaupt ODR zuerst mit Mediationstechniken der Streitvermeidung begann und später auch die alternativen Formen der Streitbeilegung einbezog. Das Spektrum der Begriffsverwendung und der Möglichkeiten reicht wesentlich weiter und gebietet eine Vorklärung. (...)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.05.2021 09:04
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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