Aus der ZKM

Automatisierte gerichtliche Vergleichsvorschläge im Zivilprozess (Rollberg, ZKM 2020, 208)

In einer Zeit, in der zunehmend Legal Tech-Anbieter mit ihren Tools für automatisierte Anspruchsprüfungen auf den Rechtsmarkt drängen, stellt sich die Frage, inwieweit auch die Justiz von solchen Werkzeugen profitieren könnte. Ihre Einbindung in die richterliche Entscheidungsfindung unterliegt zwar hohen Anforderungen, was vor allem an der grundgesetzlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit liegt. Wendet man den Blick aber ab von der eigentlichen richterlichen Entscheidungsfindung und hin zu gerichtlichen Vergleichsvorschlägen, eröffnet sich ein anderes Bild. Der Beitrag zeigt auf, dass die bedeutendsten rechtlichen Herausforderungen automatisierter gerichtlicher Vergleichsvorschläge im Datenschutz liegen. Diese erweisen sich aber als zu bewältigen.


A. Einleitung

B. Automatisierte richterliche Entscheidungsfindung

C. Automatisierter Vergleichsvorschlag

D. Rechtliche Klippe des Art. 22 Abs. 1 DSGVO

I. Anwendbarkeit der DSGVO im Zivilprozess

II. Vorgaben des Art. 22 Abs. 1 DSGVO

1. Automatisierte Entscheidung

2. Erhebliche Beeinträchtigung?

III. Zwischenergebnis

IV. Automatisierter Vergleichsvorschlag des Güterichters

E. Fazit
 

A. Einleitung

Die Entwickler von sog. „Legal Analytics“ bzw. „Legal Prediction“ nehmen für ihre Systeme in Anspruch, dass diese zukünftige Gerichtsentscheidungen immer präziser vorhersagen können. Je zuverlässiger die Vorhersagen ihrer Systeme werden, umso mehr rückt die Frage in den Vordergrund, wie sie in der Praxis gewinnbringend eingesetzt werden können. Dies gilt nicht nur für Unternehmen oder Rechtsanwälte, die damit etwa die Erfolgschancen von bestimmten in Aussicht genommenen Klageverfahren vorab bestimmen können. Auch die Justiz könnte erwägen, welchen Nutzen sie aus Systemen ziehen mag, die zunehmend besser in die gerichtliche Kristallkugel schauen können. Die Frage, wie die Justiz solche Systeme in der Zukunft ggf. sogar selbst einsetzen könnte, stellt in der bisherigen Diskussion um das Thema Legal Tech aber allenfalls eine Randerscheinung dar. Das muss nicht so bleiben. Wenn die Europäische Kommission der deutschen Justiz in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht eine in der mehrjährigen Tendenz nachlassende Leistungsfähigkeit bescheinigt, da die Verfahren in Zivil- und Handelssachen trotz sinkender Eingangszahlen länger dauern, sollten neben den Ursachen auch Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation in den Blick genommen werden. Der vorliegende Beitrag soll einen Ansatz dazu liefern.

B. Automatisierte richterliche Entscheidungsfindung

Die Automatisierung richterlicher Entscheidungsfindung sieht sich erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. So ist es ausgeschlossen, menschliche Richter durch Computer zu ersetzen. Denn das Grundgesetz geht wie selbstverständlich davon aus, dass Richter i. S. d. Artt. 92, 97 Abs. 1 GG nur natürliche Personen sein können. Dies verrät ein Blick in Art. 97 Abs. 2 GG, wonach etwa von „auf Lebenszeit angestellte[n] Richter[n]“, die grundsätzlich nicht vor dem Ablauf ihrer „Amtszeit“ entlassen werden können, die Rede ist. Ämter werden von Menschen bekleidet, die außerdem im Gegensatz zu Computern leben.

Um einen Menschen einer computergemachten Entscheidung zu unterwerfen, muss es aber nicht so weit gehen, menschliche Richter durch „Robo-Richter“ zu ersetzen. Stattdessen ist denkbar, dass Richter ihre Entscheidungsbefugnisse aus eigenem Antrieb auf Computer übertragen. Der Adressat einer solchen Entscheidung kann ihren eigentlichen Ursprung nicht selbstständig nachvollziehen. Denn alles, was er sieht, ist das fertige Urteil, das von den zur Entscheidung berufenen Richtern unterzeichnet und verkündet worden ist. Dabei führt bereits eine derartige Gestaltung der Entscheidungsfindung zu Problemen. Binden sich Richter an die Ergebnisse eines Computerprogramms, indem sie seine Ergebnisse in ihre zu treffende Entscheidung übernehmen, geraten sie in Konflikt mit ihrer eigenen richterlichen Unabhängigkeit. Denn die richterliche Unabhängigkeit ist kein Grundrecht des Richters oder etwa sein persönliches Standesprivileg. Schützen soll die richterliche Unabhängigkeit vielmehr die Beteiligten eines Rechtsstreits. Sie sollen darauf vertrauen können, dass ihr Anliegen von einer unvoreingenommenen, unparteiischen Instanz entschieden wird, die ihre Entscheidung einzig und allein an Gesetz und Recht ausrichtet. Die ausschließliche Bindung der Richter an das Gesetz wird im Grundgesetz sogar an zwei Stellen erwähnt: in Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG.

Sollen automatisierte Elemente Eingang in Urteile und Beschlüsse finden, kommt es deshalb darauf an, inwiefern der ein Computerprogramm einsetzende Richter das Programm beherrscht. Bei Programmen, deren Tätigkeit sich in der Ausführung der darin implementierten Algorithmen erschöpft, kann das durchaus der Fall sein; so etwa in den (selten vorkommenden) Fällen, dass Richter eigene Software-Lösungen entwickeln. Zum Beispiel hat RiOLG a. D. Werner Gutdeutsch das Programm WinFam entwickelt, das familienrechtliche Berechnungen, etwa zum Versorgungsausgleich, ausführt. Aufmerksamkeit hat zuletzt auch die App Richter-Tools  auf sich gezogen, die RiLG Prof. Dr. Jan F. Orth entwickelt hat. Programmiert ein Richter eine solche Anwendungssoftware, formuliert er damit präzise Anweisungen, die der Computer stur ausführt. In dem Fall fungiert der Computer lediglich als vom Richter beherrschtes Werkzeug.

Komplizierter wird es aber, wenn Richter diese Anwendungen verwenden und ihre Entscheidung daran ausrichten, obwohl sie ihre Funktionsweise nicht nachvollziehen können. Ganz besonders deutlich wird dies bei autonomen Systemen, also solchen Systemen, die mittels eines Algorithmus einen Pool an Daten durchsuchen, um Korrelationen aufzufinden und daraus eigene Regeln zu entwickeln, die sie sodann auf neue Fälle anwenden. Man spricht hier von lernenden Systemen. Auf solchen Systemen beruhen die oben bereits angesprochenen Entscheidungsvorhersagesysteme. Problematisch an autonomen Systemen ist, dass es so gut wie unmöglich ist, ihre Funktionsweise im Einzelnen nachzuvollziehen. Selbst für ihre Entwickler stellen sie sich als „Blackbox“ dar. Richten Gerichte ihre Entscheidungen gleichwohl an den Ergebnissen von autonomen Systemen aus, geben sie ihre Entscheidungskompetenzen aus der Hand. Denn sie wissen nicht, wie der Computer zu seiner Entscheidung gelangt. Das Computerergebnis tritt an die ZKM 2020, 210Stelle der richterlichen Sachentscheidung. Das gleiche gilt, wenn Richter die Ergebnisse eines von ihnen nicht beherrschten rein algorithmischen Programms in ihre Entscheidungen übertragen. Zwar fehlt dem Computer hier die Lernkomponente, die ihm „Autonomie“ verleiht, so dass der Computer bei gleichen Eingaben immer wieder die gleichen Ergebnisse produzieren wird. Welche Eingaben welche Ergebnisse produzieren, kann aber nur derjenige vorhersagen, der den Programmcode kennt und versteht. Nur bei ganz simplen Programmen, die eine überschaubare Anzahl Eingaben zu einer ebenso überschaubaren Anzahl von Ergebnissen verarbeiten können, ist potentiell jedermann in der Lage, sie mittels Durchprobierens sämtlicher möglicher Eingabevarianten vollständig nachzuvollziehen. Das Maß, das eine überschaubare Komplexität übersteigt, ist aber – gerade wenn man eine echte Effizienzsteigerung bewirken möchte – recht schnell erreicht. Für die Praxis besonders interessant sind hingegen Programme, die den Menschen komplexe Prüfungen abnehmen. So erklärt sich etwa der Erfolg des Programms WinFam, das sich als Standard an den Familiengerichten in Deutschland durchgesetzt hat.

C. Automatisierter Vergleichsvorschlag

Automatisierte gerichtliche Vergleichsvorschläge können zwar nicht in die Köpfe der Richter hineinschauen, aber doch das Prozessrisiko der Parteien in der Form von statistischen Wahrscheinlichkeitswerten widerspiegeln. Je breiter die Datenbasis aufgestellt ist, umso tiefer kann die statistische Auswertung gehen, was die Zuverlässigkeit der Prognose fördert. Nötig hierfür ist, Zugriff auf einen ausreichend großen Datenpool, also eine Vielzahl von Entscheidungen zu haben, die statistisch auf Übereinstimmungen ausgewertet werden können. Daraus wird recht schnell ersichtlich, dass das größte Potential automatisierter Vergleichsvorschläge in sog. Massenverfahren steckt. Diese bieten eine breite Datenbasis, weil zahlreiche Verfahren die gleichen Rechtsfragen zum Gegenstand haben und sich nur durch die einzusetzenden Variablen unterscheiden, von denen die Ergebnisse im Einzelfall abhängen. Ferner lohnt sich in diesem Bereich eher der Aufwand für die Entwicklung, weil die potentiell zu produzierenden automatisierten Vergleichsvorschläge in einer unbestimmten Anzahl weiterer Verfahren zum Einsatz kommen können. Denkbar wäre die Entwicklung eines Basissystems, das in verschiedenen Bereichen eingesetzt werden kann. Eine Ausgabe des Basissystems könnte beispielsweise Verfahren analysieren, die die Abrechnung von Mietnebenkosten zum Gegenstand haben, ein anderes hingegen Prozesse, bei denen Gutachterkosten im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen im Streit stehen. In der Anwendungsphase könnten die Systeme Vergleichsvorschläge für neu eingehende Verfahren produzieren.

Wie gesehen sind Computerentscheidungen nun aber grundsätzlich nicht geeignet, solche des Gerichts zu ersetzen. Bei Urteilen und Beschlüssen, die die Parteien binden, ist das eindeutig. Gerichtliche Vergleichsvorschläge begründen jedoch keine Verhaltenspflichten der Parteien. Darin liegt ein wichtiger Unterschied. Das Gericht trifft mit dem Vergleichsvorschlag weder eine eigene Sachentscheidung noch bereitet es eine solche vor. Die richterliche Unabhängigkeit wird durch die Unterbreitung eines automatisierten Vergleichsvorschlags also nicht betroffen, weshalb es auch auf die Nachvollziehbarkeit seines Ursprungs nicht ankommt. Anders liegt es zwar beispielsweise, wenn Gerichte rechtliche Hinweise nach § 139 ZPO erteilen. Solche Hinweise liegen im Hinblick auf ihre Bindungswirkung zwischen den für die Parteien verbindlichen Urteilen und Beschlüssen und den für sie unverbindlichen Vergleichsvorschlägen. Wer rechtliche Hinweise des Gerichts ignoriert, dem drohen prozessuale Nachteile wie z. B. die Zurückweisung von Vorbringen als verspätet (vgl. § 296 ZPO), weshalb auch ihre Automatisierung Bedenken unterliegt. Vergleichbare Nachteile drohen aber nicht, wenn einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag nicht zugestimmt wird. Lehnt mindestens eine Partei den Vorschlag ab oder lässt ihn unbeantwortet, läuft der Prozess ohne jede rechtliche Konsequenz weiter. Ob er Rechtsgültigkeit erlangen soll, obliegt allein der Entscheidung der Parteien.

Auch die Tatsache, dass die gütliche Streitbeilegung zu den wichtigsten Aufgaben der Rechtsprechung gehört und deshalb dem Kernbereich richterlicher Tätigkeit zuzuordnen ist, steht der Zulässigkeit von automatisierten Vergleichsvorschlägen in Gerichtsverfahren nicht entgegen. Ganz im Gegenteil wird anhand verschiedener Vorschriften deutlich, dass der Gesetzgeber die gütliche Einigung zwischen den Streitparteien fördern möchte. So ist das Gericht gemäß § 278 Abs. 1 ZPO in jeder Lage des Verfahrens gehalten, auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits hinzuwirken; etwa durch die Unterbreitung eines konkreten Vergleichsvorschlags (§ 278 Abs. 6 ZPO). Vergleichsvorschläge können aber nicht nur von Gerichten unterbreitet werden. Selbstverständlich können auch die Parteien eines Rechtsstreits oder auch Dritte Vorschläge für eine gütliche Einigung in das Verfahren einbringen. Rechtsanwälte sollen durch die Ausgestaltung des anwaltlichen Gebührenrechts sogar besonders motiviert werden, auf vergleichsweise Einigungen hinzuwirken. Nr. 1000, 1003 und 1004 der Anlage 1 zum RVG stellen ihnen hierfür eine Einigungsgebühr in Aussicht. Festzuhalten ist demnach, dass Vergleichsvorschläge anders als Urteile nicht exklusiv dem Gericht zustehen.

D. Rechtliche Klippe des Art. 22 Abs. 1 DSGVO

Automatisierte Entscheidungen in der Justiz sind nicht nur an der richterlichen Unabhängigkeit zu messen. Auch die Vorgaben des Art. 22 Abs. 1 DSGVO sind zu beachten. Danach haben natürliche Personen das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihnen gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt. (...)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.01.2021 15:35
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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