Aktuell in der ZKM

Wirtschaft und Menschenrechte - ein neues Anwendungsfeld für ADR? (Wenzel/Dorn, ZKM 2020, 50)

Noch weitgehend unbemerkt von der ADR-Szene entwickelt sich derzeit, angestoßen durch die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte, ein neues Anwendungsfeld für die außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten. Verstoßen Wirtschaftsunternehmen gegen ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten, muss für die Opfer solcher Verstöße ein effektiver Zugang zu Abhilfe gewährleistet sein. Das Abhilfesystem soll nach den VN-Leitprinzipien neben dem gerichtlichen Rechtsschutz auch außergerichtliche Beschwerdemechanismen umfassen. Diese zu gestalten, ist eine Herausforderung, die sich nur unter Einbeziehung der Expertise aus dem Bereich ADR/Konfliktmanagement sinnvoll bewältigen lässt.


A. Einleitung

B. Die 3. Säule der VN-Leitprinzipien

I. Breiter Begriff der Abhilfe

II. Integratives Rechtsschutzsystem

III. Standards für Mechanismen der außergerichtlichen Streitbeilegung

C. Die Umsetzung der dritten Säule

D. Ausblick
 


A. Einleitung

Die enge Verflechtung der Weltwirtschaft ist Ursache und Wirkung der Globalisierung zugleich. Weltweit verzweigte und dadurch unübersichtlich gewordene Vertragsbeziehungen, globale Liefer- und Wertschöpfungsketten und eine erhebliche Wirkmacht transnationaler Unternehmen sind nur einige der Phänomene, in denen sie ihren Ausdruck findet. Während die Globalisierung zur Mehrung des wirtschaftlichen Wohlstands beiträgt, hat sie auch zur Folge, dass Verantwortlichkeiten verschwimmen. Dies stellt die staatliche Regulierung vor große Herausforderungen. Dies gilt gerade auch im Hinblick auf die Auswirkungen wirtschaftlicher Tätigkeit auf die Menschenrechte. Die Tätigkeit transnational agierender Unternehmen beeinflusst die Verwirklichung der Menschenrechte in anderen Staaten – im positiven wie im negativen Sinne. Dies betrifft zum einen die Menschenrechte von Arbeitnehmern in Unternehmen der Lieferkette, aber auch Menschenrechte von unternehmensexternen Personen in anderen Staaten. Berichte über verheerende Arbeits- und Sicherheitsbedingungen in Fabriken der Lieferketten europäischer Unternehmen im Ausland zeigen ebenso wie Berichte über Umweltschäden großen Ausmaßes im Umfeld von ausländischen Fabrikationsstandorten europäischer Unternehmen, dass hier nicht alles zum Besten steht.

Vor diesem Hintergrund haben sich die Vereinten Nationen der Frage der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen angenommen. Versuche, das Problem dadurch zu lösen, dass Unternehmen direkt an die völkerrechtlichen Menschenrechte gebunden werden, scheiterten. Zu einem solchen Bruch mit der Dogmatik des völkerrechtlichen Systems zum Schutz der Menschenrechte, welche wie die im Grundgesetz verankerten Grundrechte als Rechte des Einzelnen gegen den Staat konzipiert sind, konnten sich die Staaten nicht durchringen. Als erfolgreich erwies sich vielmehr ein Ansatz, der auf der rechtlichen Verantwortung der Staaten aufbaute, Menschenrechte des Einzelnen auch gegenüber privaten Wirtschaftsunternehmen zu schützen, und gleichzeitig die moralische Verantwortlichkeit der Unternehmen durch konkrete Verhaltensstandards bekräftigte und stärkte. Die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte wurden am 16.6.2011 von dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen angenommen. In drei sog. Säulen konkretisieren die dem Bereich des unverbindlichen soft law zuzuordnenden Leitprinzipien die bestehenden menschenrechtlichen Schutzpflichten der Staaten (Säule 1: „Schutz“), buchstabieren die Verantwortung der Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte aus (Säule 2: „Achtung“) und etablieren Standards zum Zugang von in ihren Menschenrechten beeinträchtigten Personen zu wirksamer Abhilfe (3. Säule: „Abhilfe“).

Die VN-Leitprinzipien sind eine pragmatische Antwort auf die oben beschriebenen Herausforderungen. Trotz ihres unverbindlichen Charakters haben sie viel bewirkt: Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene findet eine breite Diskussion über unternehmerische Sorgfaltspflichten statt. Der gesellschaftliche Diskurs hat sich verändert; die Öffentlichkeit erwartet von Unternehmen, dass sie ihrer menschenrechtlichen Verantwortlichkeit nachkommen. Nationale Aktionspläne wurden erarbeitet und werden umgesetzt. Über gesetzliche Regelungen wird diskutiert – zum Teil sind sie schon erarbeitet und in Kraft getreten. Kürzlich hat auch die Europäische Kommission eine Studie zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten von Unternehmen mit einem entsprechenden impact assessment verschiedener Regulierungsansätze veröffentlicht.

In Deutschland wurde 2016 ein Nationaler Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) verabschiedet. Der Aktionsplan enthält eine Vielzahl von Maßnahmen, die durch öffentliche Stellen und Unternehmen umzusetzen sind. Derzeit wird im Rahmen eines Monitoring-Verfahrens in Form einer empirischen Untersuchung überprüft, inwieweit in Deutschland ansässige Unternehmen ihrer im NAP verankerten menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen. Das Ergebnis des Monitoring-Verfahrens wird für die weitere Diskussion über die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen in Deutschland maßgeblich sein.

B. Die 3. Säule der VN-Leitprinzipien

Für die Zwecke dieses Beitrags ist vor allem die dritte Säule der VN-Leitprinzipien relevant. Grundlegendes Prinzip der dritten Säule ist die menschenrechtliche Pflicht der Staaten, im Fall von mit Unternehmen zusammenhängenden Menschenrechtsverletzungen dafür zu sorgen, dass die Betroffenen Zugang zu wirksamer Abhilfe haben. Das Konzept des Zugangs zu wirksamer Abhilfe, im englischen „access to effective remedy“, ist ein menschenrechtlicher Begriff; viele der universellen und regionalen Menschenrechtsverträge enthalten entsprechende individuelle Rechte. Menschenrechte sind zunächst inhaltliche Gewährleistungen. Inhärenter Bestandteil des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ist aber auch die Möglichkeit für den Einzelnen, bei Verstößen gegen die inhaltlichen Gewährleistungen wirksame Abhilfe zu bekommen. Dabei ist das Recht auf wirksame Abhilfe keineswegs auf den gerichtlichen Rechtsschutz reduziert. Nicht nur Gerichte, auch andere Stellen können, wenn sie die entsprechenden Kompetenzen haben und gewisse Verfahrensstandards einhalten, wirksame Abhilfe gewähren. Mit dieser menschenrechtlichen Perspektive blicken die VN-Leitprinzipien auf das von seiner Natur her zivilrechtliche Verhältnis zwischen dem Unternehmen und dem Einzelnen – sei es ein Arbeitnehmer oder sei es ein Außenstehender, der durch Handlungen des Unternehmens Schäden davonträgt. Das hat drei wesentliche Konsequenzen: Erstens steht bei den Leitprinzipien nicht die pekuniäre Wiedergutmachung im Fokus. Vielmehr liegt ihnen ein breiter Begriff der Abhilfe zugrunde, der auch andere Formen der Wiedergutmachung und auch präventive Maßnahmen mit umfasst (I.). Zweitens umfasst der Zugang zu wirksamer Abhilfe neben dem gerichtlichen Rechtsschutz auch außergerichtliche Beschwerdemechanismen (II.). Diese Beschwerdemechanismen müssen entsprechend dem oben Gesagten gewissen verfahrensrechtlichen Standards genügen. Daher stellen die Leitprinzipien ausdifferenzierte völkerrechtliche Standards zur Ausgestaltung von Mechanismen der außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Privatpersonen auf (III.).

I. Breiter Begriff der Abhilfe

In Fortführung des beschriebenen menschenrechtlichen Ansatzes liegt den Leitprinzipien ein sehr weites Verständnis von Abhilfe zugrunde. Abhilfe besteht bei weitem nicht nur in der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands bzw. der finanziellen Kompensation für den erlittenen Schaden. Vielmehr kann Abhilfe auch durch eine Entschuldigung, eine nicht-finanzielle Wiedergutmachung oder eine Rehabilitation gewährt werden. Auch präventive Maßnahmen werden als mögliche Formen der Abhilfe genannt.

II. Integratives Rechtsschutzsystem

Aus menschenrechtlicher Perspektive konsequent, aus ADR- und zivilrechtlicher Perspektive aber bemerkenswert, postulieren die Leitprinzipien ein umfassendes Rechtsschutzsystem, in dem sich gerichtliche und außergerichtliche Beschwerdemechanismen ergänzen. Der Staat wird verpflichtet, neben dem gerichtlichen Rechtsschutz auch (staatliche) außergerichtliche Beschwerdemechanismen bereitzustellen. Die Ergänzung durch außergerichtliche Beschwerdemechanismen soll der Gefahr einer Überlastung des Gerichtssystems vorbeugen, beruht aber auch auf der Erkenntnis – die in dem Kommentar zu den Prinzipien allerdings nur angedeutet wird – dass ein gerichtliches Verfahren nicht in allen Fällen den Bedürfnissen des in seinen Menschenrechten betroffenen Individuums gerecht wird. Integriert werden sollen in dieses System auch nicht-staatliche außergerichtliche Beschwerdemechanismen. Damit sind vor allem unternehmensinterne und branchenbezogene Mechanismen angesprochen.

Die Leitprinzipien beschränken sich darauf, die verschiedenen Mechanismen nebeneinander darzustellen, lassen jedoch die Frage, wie sie ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen, weitgehend offen. Es finden sich insofern lediglich Andeutungen. Während die staatlichen außergerichtlichen Mechanismen Lücken beim gerichtlichen Rechtsschutz füllen sollen, wird die Aufgabe unternehmensgetragener Mechanismen vor allem im Vorfeld gesehen: Sie sollen es ermöglichen, Missständen frühzeitig zu begegnen, und so verhindern, dass Schäden sich verschlimmern und Beschwerden eskalieren. Gleichzeitig sollen sie Unternehmen erlauben, durch die Analyse der bei Beschwerden verzeichneten Trends und Muster auch systemische Probleme festzustellen und ihre Praktiken entsprechend anzupassen. Aus der Vielzahl der möglichen Beschwerdewege ein dem Bedürfnis der Betroffenen gerecht werdendes und überschaubares Gesamtsystem des Rechtsschutzes zu schaffen, stellt eine Herausforderung dar, bei der die Leitprinzipien keine Hilfestellung leisten.

III. Standards für Mechanismen der außergerichtlichen Streitbeilegung

Die Leitprinzipien betreten in gewisser Weise Neuland; so finden sich erstmals in einem völkerrechtlichen Dokument Standards zur Ausgestaltung von Mechanismen der außergerichtlichen Streitbeilegung zwischen Privatpersonen, die gewährleisten sollen, dass die angebotenen Verfahren wirksame Abhilfe bieten.

Diese beziehen sich zum einen auf das Verfahren selbst: Dieses muss transparent geführt werden (bei gleichzeitiger Wahrung des Grundsatzes der Vertraulichkeit) und für die Parteien klar und vorhersehbar sein. Transparenz soll auch durch Veröffentlichung von Statistiken und Fallbeispielen gesichert werden. Darüber hinaus müssen grundlegende Anforderungen an ein faires Verfahren beachtet werden. Insbesondere muss eine Einflussnahme der Parteien ausgeschlossen sein, und es muss gewährleistet sein, dass die schwächere Partei in dem Verfahren nicht benachteiligt wird. Letzterem kommt in dem Kontext Wirtschaft und Menschenrechte besondere Bedeutung zu, weil die Fallkonstellationen in aller Regel ein institutionalisiertes Machtgefälle zwischen dem Wirtschaftsunternehmen und dem in seinen Menschenrechten betroffenen Individuum aufweisen. Die oft schwierige Situation der betroffenen Personen führt auch dazu, dass schon das Erheben einer Beschwerde mit Blick auf mangelnde Kenntnis des Mechanismus bzw. Lese- und Schreibvermögen eine unüberwindbare Hürde darstellen kann. Vor diesem Hintergrund heben die Leitprinzipien die Bedeutung der Zugänglichkeit gerade auch für schwache Parteien hervor.

Die Ergebnisse des Verfahrens müssen mit den internationalen Menschenrechten im Einklang stehen. Damit dürfte keine Vorentscheidung zugunsten rechtsbasierter Methoden der Streitbeilegung verbunden sein. Vielmehr können durchaus auch Methoden wie Mediation Anwendung finden. Bei einer Mediation bilden die Menschenrechte den normativen Rahmen, innerhalb dessen sich eine mediativ erarbeitete Einigung bewegen muss. Die Konsequenzen dieser normativen Begrenzung im Einzelnen bedürfen noch näherer Analyse. Vieles spricht jedoch dafür, dass der Flexibilität bei der Lösungssuche keine allzu engen Grenzen gesetzt sind. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass die völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge für die an dem Verfahren Beteiligten – Wirtschaftsunternehmen auf der einen und Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite – grundsätzlich nicht direkt gelten. Vielmehr liegt hier eine Konstellation vor, die im grundrechtlichen Jargon als „mittelbare Drittwirkung“ bezeichnet wird und in der es um die Ausstrahlung der Menschenrechte in das Verhältnis zwischen Privatpersonen geht. Zum anderen lassen sich den völkerrechtlichen Menschenrechtsverträgen nur in begrenztem Umfang konkrete Verhaltensanweisungen entnehmen. Die Konkretisierung der sehr allgemein gehaltenen menschenrechtlichen Vorgaben auf einen spezifischen Sachverhalt erfolgt vielmehr unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls unter Abwägung der konfligierenden Interessen und Rechtspositionen.

In Bezug auf die unternehmens- oder branchenbezogenen Mechanismen äußern die Leitprinzipien eine Präferenz für nicht rechtsbasierte Methoden: Die Beschwerdemechanismen sollen primär dialogbasiert sein; die Parteien sollen gemeinsam Lösungen erarbeiten. Soweit eine rechtliche Lösung erforderlich ist, soll diese von einem unabhängigen Dritten gewährt werden. Der Gedanke der Partizipation wird in Bezug auf unternehmens- und branchenbezogene Mechanismen auch auf die Ausgestaltung des Mechanismus bezogen. Dieser soll auf Grundlage des Austausches mit betroffenen Stakeholdern entwickelt werden, um den jeweiligen Bedarfslagen zu entsprechen.

Schließlich konzipieren die Leitprinzipien die Abhilfe als lernendes System: Die Erfahrungen, die bei dem Umgang mit Beschwerden gemacht werden, sollen zum einen zur Verfahrensoptimierung genutzt werden. Die Beschwerden, die von den Beschwerdemechanismen bearbeitet werden, können zum anderen jedoch auch systemische Probleme offenlegen, so dass diese identifiziert und proaktiv angegangen werden können. (...)


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 22.04.2020 13:33
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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