Aktuell in der ZKM

Diskursbeitrag: Rechtsschutzversicherung und außergerichtliche Konfliktbeilegung 4.0 (Eberhardt, ZKM 2019, 107)

Seit einigen Jahren sind die Rechtsschutzversicherer verstärkt auch im Bereich der außergerichtlichen Streitbeilegung aktiv. In Fachkreisen werden die Aktivitäten sehr kontrovers diskutiert; dies gilt insbesondere für die aus dem Angebots-Portfolio vieler Versicherer nicht mehr wegzudenkende so bezeichnete Telefonmediation. Der Autor, Mitglied des Vorstands der ROLAND Rechtsschutz-Versicherung-AG, gibt Einblicke in die Sichtweise der Branche und zeichnet mit Blick auf gesellschaftliche Trends sowie die allgemeine Entwicklung am Rechtsdienstleistungsmarkt ein eigenes Bild zur künftigen Rolle der Rechtsschutzversicherer.

I. Einleitung – Ehrlich währt am längsten

II. Konfliktbeilegung als Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse

III. Rechtsschutzversicherungen als Point of Sale für außergerichtliche Konfliktbeilegung

IV. Zur anwaltlichen Kritik am „Telefon-Vodoo“

V. Wendet sich der Rechts- und Ratsuchende von der Judikative ab?

VI. Fazit
 

I. Einleitung – Ehrlich währt am längsten
Seien wir ehrlich – eine Rechtsschutzversicherung ist ein Wirtschaftsunternehmen. Auch und gerade in einer sozialen Marktwirtschaft ist ein Unternehmen grundsätzlich von Gewinnerzielungsabsicht geprägt. Umso merkwürdiger mutet die insbesondere von Anwaltsseite geradezu gebetsmühlenartig geäußerte Kritik an durch Rechtsschutzversicherungen vermittelter außergerichtlicher Konfliktbeilegung an. Es wird die „skandalöse“ Entdeckung kundgetan, eine Versicherung wolle Geld verdienen. Verkannt wird, dass Gewinnerzielung nur gelingt, wenn Kundeninteressen besser befriedigt werden, als anderswo, damit nicht – Nokia oder Kodak lassen grüßen – an Relevanz eingebüßt wird. Unternehmen wie Amazon haben dies verstanden, antizipieren Bedürfnisse ihrer Kunden und zeigen sich bei Reklamationen kulant, da sie dies weniger kostet, als den Kunden zu verlieren. Sie bieten auf einer möglichst einfachen Abschlusstrecke zudem – ähnlich wie der gute alte an der Straßenecke aufgestellte Kaugummiautomat – eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung an, der Kunde ist glücklich, der Konzern verdient. Wird dieser Zusammenhang bei Konfliktlösungen ignoriert?

II. Konfliktbeilegung als Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse
Frühkindliche Erlebnisse prägen die Persönlichkeit eines Menschen in neurobiologischer Hinsicht entscheidend. Das Gehirn macht aus sozialen Erfahrungen neurobiologische Prozesse, die das weitere Verhalten des betroffenen Menschen weitgehend beeinflussen oder gar in bestimmtem Umfange festlegen. Der seit frühester Menschheitsgeschichte in Stämmen organisierte Mensch bedurfte stets eines von Wohlwollen geprägten Umgangs mit seinen Mistreitern, der entscheidend für sein Überleben war. Aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgestoßen zu werden, bedeutete den sicheren Tod; Fortpflanzung, Verteidigung und große Teile der Jagd wären für den Einzelnen unmöglich. ZKM 2019, 108„Einzelgängerische Irrläufer“ verschwanden folglich weitestgehend aus unserem Genpool. Das Erstreben sozialer Adäquanz ist somit ein evolutionär eingeprägtes neurobiologisches Grundmuster des Menschen. Über Hunderttausende von Jahren entwickelte sich so im Gehirn ein Belohnungssystem für kooperatives Verhalten, unterstützt durch Formen der Anerkennung oder schlicht des Überlebens in einer regelmäßig feindlichen Umgebung. Da das menschliche Gehirn evolutionär in vielerlei Hinsicht mit der raschen industriellen und nun auch digitalen Entwicklung nicht in gleichem Maße Schritt halten konnte, scheint die Suche nach „Geborgenheit im Rudel“ so etwas wie ein Ur-Instinkt geblieben zu sein. Mithin kooperieren wir nach wie vor, wenn wir bestimmte Ziele erreichen wollen, und begreifen dies als vorteilhaft, weil unser Gehirn dies als lohnend honoriert. Dies legt ganz überwiegend – soweit Ziele nicht durch Macht- oder Gewaltausübung angestrebt werden- ein grundlegend harmonisches Miteinander prioritär fest, zumeist in den sozialen Leitplanken, die frühkindlich erfahren wurden. Einflussfaktoren bei der Entwicklung persönlicher Leitplanken dürfte vor allem sein, wie und wo der Mensch in seinen Prägejahren sozialisiert wird, da nicht Fähigkeit zur Selbststeuerung angeboren ist, sondern lediglich die Möglichkeit, diese Selbststeuerung grundsätzlich in den Prägephasen zu erwerben. Auch regionale oder mentalitätsbedingte Unterschiede haben daher offenbar starken Einfluss auf die Konfliktlösungsfähigkeit. Immer bedeutsamer dürfte zudem die „digitale Intensität“ der Umgebung sein, d.h. der Umfang, in dem digitale Mechanismen menschliche Kommunikation unterstützen oder gar ersetzen. So scheint die zunehmende Verlagerung der Kommunikation auf elektronische Geräte und „Social Media“-Plattformen eine „seltsame Sprachlosigkeit“ auszulösen. Warum ist dies hier von besonderer Relevanz? Weil Rechtsschutzversicherungen rein subjektive Risiken absichern, d.h. Eintritt des Versicherungsfalls sowie Art und Umfang der Konfliktlösung im Gegensatz zu sonstigen Schadenversicherungen entscheidend von der persönlichen Disposition des Kunden abhängen.

III. Rechtsschutzversicherungen als Point of Sale für außergerichtliche Konfliktbeilegung
Jeder Mitarbeiter in der telefonischen Erstschadenaufnahme einer Rechtsschutzversicherung wird bestätigen, dass der geschilderte „Fall“ sich nur allzu oft als „soziale Orientierungslosigkeit“ mit dem Hilferuf herausstellt: „Was soll ich denn jetzt tun?“ Hunderttausende jährliche Anrufe bei Rechtsschutzversicherern zeigen immer wieder, dass das Streben des Kunden nach sozialer Adäquanz und Orientierung ein zentrales Muster von Konflikten ist. Dies zu ignorieren, wäre für ein Wirtschaftsunternehmen fatal. Will der Rechtsschutzversicherer relevant bleiben, muss er nach Lösungen für seine Kunden suchen und diese erfolgreicher anbieten als seine Mitbewerber. So entspricht die Kundenanforderung an Rechtsschutzversicherer längst nicht mehr dem Bild einer klassischen Schadenversicherung als Bezahler von Anwaltsrechnungen und Gerichtskosten. Die Rechtsschutzversicherer mussten sich für ihre rund 22 Millionen Kunden als Lotse im Konfliktfall und somit als primärer, wenn nicht sogar einzig spürbarer Point of Sale für außergerichtliche Konfliktbeilegungsmodelle etablieren. Aufgrund des wachsenden Drucks auf das klassische Geschäftsmodell der Branche sowie sich verändernder Kundenbedürfnisse werden Produktinnovationen auch und gerade im Bereich außergerichtlicher Konfliktbeilegung forciert; Räume für diese Weiterentwicklungen wurden vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen. Die Bemühungen konzentrieren sich zwar besonders auf die Leistungsarten des Vertrags- und Sachenrechts, gefolgt vom Wohnungs- und Grundstücksrechtsschutz, dem Arbeitsrechtsschutz und dem Verkehrsvertragsrechtsschutz, Verhältnissen also, denen oft längerfristige Beziehungen zugrunde liegen; ein schonender Interessenausgleich ist aber auch immer stärker in kurzfristigen, nicht unbedingt auf langfristigen Beziehungsausgleich abzielenden Fallgruppen zu beobachten. Die anhaltend hohen Fallabschluss- und Zufriedenheitsquoten sprechen für sich. So werden rund 70 % der vermittelten außergerichtlichen Konfliktbeilegungen erfolgreich beendet. Vergleichbare Erfolge verzeichnen die Schlichtungsstellen gemäß Verbraucherstreitbeilegungsgesetzes nicht. Durch den durch ratsuchende Kunden vorhandenen Pull-Effekt haben die Rechtsschutzversicherer eine Alleinstellung, wenn es um die Vermittlung außergerichtlicher Konfliktlösungen geht. Dies ist eine einmalige Chance zur Vermittlung des ratsuchenden Publikums, die keine andere Institution zu bieten hat. Dabei hilft, dass die Mediation als prominenteste Methode außergerichtlicher Konfliktlösung erfreulicherweise zusehends bekannter wird.

IV. Zur anwaltlichen Kritik am „Telefon-Vodoo“
Die Kritik aus der Anwaltschaft – soweit sie überhaupt sachlich geäußert wird – an der von Rechtsschutzversicherern vermittelten telefonischen außergerichtlichen Konfliktbeilegung fußt meist auf starrem Festhalten an mediativen Methodengrenzen. Dabei zeigt die Praxis, dass der Kunde oftmals nicht methodentreu zu „mediieren“ ist. Der Methodenmix scheint erfolgversprechender zu sein als die Methodenunterordnung. Wie bereits früher an dieser Stelle dargetan, ist ein akademischer Streit über ...

 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.07.2019 12:54
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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